Die hohe Kunst der Vorhersage

Wenn Mathematik auf menschliche Wahrnehmungsfehler trifft

Menschen tun sich schwer damit, exponentielles Wachstum zu erkennen.
Menschen tun sich schwer damit, exponentielles Wachstum zu erkennen.

Seit Urzeiten versuchen Menschen Auskunft über bevorstehendes Glück oder Unglück zu erhalten. Althergebrachte Mittel für den Blick in die Zukunft waren göttliche Prophezeiungen – vermittelt durch meist menschliche Propheten und Orakel. Profaner und bis in die heutige Zeit beliebt sind dies die Dienste von Astrolog*innen und Wahrsager*innen. Wenn es über Glück und Pech im Alltag hinausgehen soll, nimmt man jedoch besser die Werkzeuge der Mathematik zur Hand, die in einigen Bereichen recht präzise Vorhersagen erlaubt und in anderen zumindest erklären kann, woran Vorhersagen scheitern.

Mit der Kunst, richtige Prognosen zu treffen und den vielfältigen Möglichkeiten, bei Vorhersagen zu scheitern, beschäftigt sich der britische Mathematiker Kit Yates in seinem unlängst auf Deutsch erschienenen Buch »Wie man vorhersieht, womit keiner rechnet«. Die größte Hürde dürfte demnach die menschliche Beschränktheit sein, bestimmte Alltagsphänomene zu begreifen. Dass die meisten Menschen Schwierigkeiten haben, Wahrscheinlichkeiten richtig einzuschätzen, macht sie wiederum anfällig für die Tricks der Wahrsagerei oder für betrügerische Wetten, wohingegen Wahrsager*innen und Wettkönig*innen auf diesem Gebiet sehr bewandert sein müssen.

Der Hang zu linearem Denken

Das Problem der Nichtlinearität dürften die meisten noch aus der Berichterstattung über die Corona-Pandemie kennen. Ein anfänglich linear erscheinendes Wachstum erweist sich plötzlich als exponentielles mit einer steil nach oben verlaufenden Kurve. Anfängliche geringe Erkrankungszahlen und damit verbundene Todesfälle vervielfachten sich innerhalb nur weniger Wochen. Die meisten Regierungen hinkten mit ihren Reaktionen hinterher. Das liegt, wie Yates erläutert, an der »Exponentialwachstumsverzerrung«, der das menschliche Bewusstsein unterliegt. Wir tendieren dazu, Wachstum als linear wahrzunehmen, obwohl es in Wirklichkeit exponentiell verläuft. Im Anfangsstadium sind die Kurven beider Wachstumsfunktionen auch kaum zu unterscheiden.

Was der Zufall nicht lehrt

Neben Wahrscheinlichkeit und Nichtlinearität bereiten dem menschlichen Gehirn aber auch Zufallsmuster Probleme. Lässt man etwa den Zufall Punkte im Raum verteilen, haben sie keinen gleichmäßigen Abstand zueinander, sondern bilden stellenweise Cluster. Das verleitet dazu, aus den Zufallsmustern Bedeutungen herauszulesen, besonders, wenn man mehrere Zufallsverteilungen übereinanderlegt. So geschehen etwa bezüglich der Leukämieerkrankungen von Kindern und der Verteilung von Hochspannungsleitungen, zuerst von einer Elterngruppe in den USA, später auch von schwedischen Wissenschaftler*innen.

Rückkopplungen einkalkulieren

Diese und andere Probleme der menschlichen Wahrnehmung, die uns einen klaren Blick in die Zukunft verstellen, beschreibt Yates. Hinzu kommt, dass die Prognose selbst das Verhalten von Menschen verändern kann. Yates bezeichnet solche Rückkopplungseffekte als »Bumerangs«, vermeintliche Lösungen, die das damit angegangene Problem aber verschlimmern oder aber eben Vorhersagen, »die die Zukunft verändern und sich selbst zunichtemachen«. So können – besonders an Jugendliche gerichtete – offizielle Gesundheitswarnungen nach hinten losgehen. Studien aus den USA und Großbritannien zeigten etwa, dass Warnhinweise auf Zigaretten zu einem signifikanten Anstieg des Rauchens bei Teenagern führte. Ein anderes, komplexeres Beispiel ist der Umgang mit der Covid-19-Pandemie. Angesichts des schnellen Anstiegs der Infektions- und Sterbefälle zu Anfang der Pandemie warnten Wissenschaftler*innen vor noch viel höheren Todeszahlen, die dann wahrscheinlich infolge strikter Kontaktbeschränkungen nicht eintraten. Wodurch wiederum die wissenschaftlichen Prognosen in der Öffentlichkeit an Glaubwürdigkeit einbüßten, Menschen weniger bereit waren, ihre Kontakte zu reduzieren und sich neue Infektionswellen ausbreiten konnten.

Die größte Schwierigkeit von Prognosen ist vielleicht – und das dürfte im globalen Klimasystem der Fall sein – dass nicht nur zwei sondern eine Vielzahl von Komponenten miteinander wechselwirken. Aber auch hier sind Verbesserungen möglich, wie etwa die Geschichte der Wettervorhersagen zeigt. Das Wichtigste aber bleibt die Bereitschaft, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und die eigene Meinung anhand neuer Daten zu aktualisieren. Besseres mathematisches Verständnis kann dabei helfen, und dafür lohnt sich die Lektüre dieses Buches.

Kit Yates: Wie man vorhersieht, womit keiner rechnet. Piper, 432 S., Hardcover, 24 €.

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