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Russland: Neue Zeiten, neue Eliten

Wladimir Putin will mit Verstaatlichungen sein politisches Erbe bewahren

  • Fedor Agapov
  • Lesedauer: 6 Min.

Am 29. Februar hielt Präsident Wladimir Putin eine Rede vor der Föderalversammlung. Darin äußerte sich der russische Präsident unter anderem über diejenigen, die man mit Recht als Elite des Landes bezeichnen könne:

»Das Wort ›Elite‹ ist in vielerlei Hinsicht diskreditiert. Diejenigen, die sich keine Verdienste vor der Gesellschaft erworben haben, aber für eine Art Kaste mit besonderen Rechten und Privilegien halten, insbesondere solche, die sich in den vergangenen Jahren auf Kosten aller möglichen Prozesse in der Wirtschaft der 90er Jahre die Taschen gefüllt haben, sind definitiv nicht die Elite. Ich wiederhole, die wahre, wirkliche Elite sind all jene, die Russland dienen, harte Arbeiter und Kämpfer, zuverlässig, geprüft, die ihre Loyalität zu Russland durch Taten bewiesen haben, würdige Menschen«.

Dass diese Passage der Rede große Aufmerksamkeit auf sich zog, überrascht nicht. In gewissem Sinne handelt es sich um eine historische Feststellung, die durch die aktuellen Veränderungen im Land bestätigt wird. Die Herausbildung einer »Elite« findet nicht nur auf dem Schlachtfeld der Ukraine statt, sondern – und das ist vielleicht noch wichtiger – auf dem Gebiet der Wirtschaft. Inmitten der Kriegswirren kommt es in der Russischen Föderation zu einer weiteren Umverteilung des Eigentums, bei der die Behörden loyale Großunternehmer von potenziellen »Dissidenten« trennen und so eine neue, sich selbst treu ergebene Oligarchenklasse schaffen, deren Reichtum ausschließlich auf dem gegenwärtig geführten Krieg gegen die Ukraine beruht.

Auseinandersetzung mit dem Erbe der 90er Jahre

Dies wird insbesondere durch zwei Mechanismen erreicht: die »Entprivatisierung« – die Übernahme privater Unternehmen durch den Staat – und die vollständige Übertragung ausländischen Eigentums in die Hände russischer Unternehmer. Versteht man genau, wie dies geschieht, kann man Putins Ziele für seine neue Präsidentschaft und seine Vorstellung von einem zukünftigen Russland besser verstehen, das das Erbe des ersten Jahrzehnts nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion überwunden hat.

Die gegenwärtige Umverteilung von Eigentum ist ein Wendepunkt in der jüngeren Geschichte Russlands. In den 20 Jahren vor dem Ausbruch des Krieges war eine Art »Vertrag« zwischen der Präsidialverwaltung und den Oligarchen in Kraft. Diese Vereinbarung stellte die Loyalität der Oligarchen gegenüber Putin sicher, indem die Regierung ihnen die Unantastbarkeit des Reichtums garantierte, den sich die Oligarchen während der kleptokratischen Privatisierung der sowjetischen Industrie in den 1990er Jahren angeeignet hatten. Der Einmarsch russischer Truppen 2022 in die Ukraine brachte dieses System jedoch zum Scheitern, und einige russische Oligarchen, die mit der neuen Isolation des Landes von westlichen Finanzinstitutionen unzufrieden waren, begannen ihre Unzufriedenheit zu zeigen.

So verließ Arkadij Wolosch, Milliardär und Gründer des mit der Regierung verbundenen IT-Giganten Yandex, im Jahr 2022 seine eigene Firma und nennt sich jetzt »israelischer Unternehmer«, um nicht mit der toxischen russischen Politik in Verbindung gebracht zu werden. Und Pjotr Awen, ehemaliger Präsident der Alfa Bank, einer der größten Banken Russlands, zog nach Lettland. Diese Beispiele überraschen nicht: Im Allgemeinen ist es in Russland seit mehr als 20 Jahren üblich, dass die sehr Reichen ihr riesiges Kapital in Russland anhäufen und dann das Geld ins Ausland bringen, wo sie Immobilien kaufen und ihre Kinder großziehen. Jetzt aber stellt dieses System weder die Reichen noch Wladimir Putin zufrieden, der sich nicht mehr auf die Loyalität der Oligarchen verlassen kann.

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Mehrfache Verstaatlichung

Nach Berechnungen der »Nowaja Gaseta Europa« und dem russischen Zweig von Transparency International gingen seit Kriegsbeginn 40 Forderungen zur Nationalisierung von über 180 Unternehmen ein. In erster Linie hat sich der Staat Industrien vorgenommen, die mit der militärischen Infrastruktur zusammenhängen. Der letzte prominente Fall ist die Beschlagnahmung von drei Anlagen des Tscheljabinsker Elektrometallurgischen Kombinats von Juri Antipow, der früher auf der Forbes-Liste der reichsten Russen zu finden war. Das Kombinat ist der größte Hersteller von Ferrolegierungen mit einem Marktanteil von etwa 80 Prozent. Es liefert sie an Metallurgie-Unternehmen, die Stahl an Rüstungsbetriebe liefern. Die Generalstaatsanwaltschaft hat die Privatisierung in den 1990er Jahren als illegal eingestuft und damit Putins Worte in die Tat umgesetzt.

Ein weiteres Instrument zur Beschlagnahmung von Eigentum besteht darin, die aktuellen russischen Eigentümer zu »ausländischen Investoren« zu erklären. Diese dürfen Anteile an Unternehmen, die von »strategischer Bedeutung für die Verteidigung und Sicherheit des Landes« sind, nur mit Zustimmung einer Regierungskommission erwerben. In jüngster Zeit gab es mindestens sechs Fälle, bei denen die Generalstaatsanwaltschaft und die Antimonopolbehörde die Verstaatlichung von Unternehmen damit begründeten, dass deren Eigentümer nach Abschluss der Geschäfte ihren Aufenthaltsstatus verlieren würden. Indem russische Behörden es unterbinden, große Kapitalvermögen aus dem Ausland zu verwalten, treiben sie eine »doppelte Verstaatlichung« voran. Sie führen Ressourcen in die Staatskasse zurück und zwingen zögernde Geschäftsleute unter Androhung der Enteignung, auf ausländische Papiere und ihre doppelte Loyalität zu verzichten.

Ausländische Vermögenswerte werden billig aufgekauft

Neben der Entprivatisierung ist ein weiterer Prozess im Gange: der billige Ankauf von Vermögenswerten ausländischer Unternehmen, die Russland verlassen haben. Die der Regierung nahestehenden Geschäftsleute Alexander Warschawskij und sein Partner Kamo Awagumjan sind ein gutes Beispiel dafür. Im Februar 2022 waren Warschawskij und Awagumjan Besitzer von Avilon, einem großen, aber nicht marktführenden Autohaus. Der Krieg machte sie zu Eigentümern der russischen Volkswagen- und Hyundai-Werke, die in Russland zusammen mehr Autos verkauften als der lokale Platzhirsch AwtoWAS. Dieser Umstand hätte sie unglaublich reich gemacht, wenn sie eine neue Produktionsstätte hätten bauen können. Gleichzeitig kann der rechtliche Status dieser Unternehmen auf internationaler Ebene in Zukunft sehr fragwürdig sein, da der Wohlstand ihrer Eigentümer im Falle eines solchen »Privatunternehmens« ausschließlich auf der kriegsbedingten wirtschaftlichen Sondersituation des Landes beruht – und damit ihrer Loyalität gegenüber der Regierung, die diesen Krieg entfesselt hat.

Letztlich kann man in diesen wirtschaftlichen Prozessen den Wunsch Putins erkennen, ein System aufzubauen, das ihn überdauern kann. Der Politikwissenschaftler Kirill Rogow nennt es »Kleptofaschismus«, ein System, in dem die Mehrheit der Bürger den Faschismus (oder politische Systeme, die ihm nahe kommen) und der autoritäre Staat das Geld bekommt.

Mit der jetzt beginnenden, groß angelegten Umverteilung von Eigentum soll die Generation der frühen russischen Oligarchen und ihre Kultur der doppelten Identität beseitigt werden. Von nun an müssen die Großbesitzer, die ihr Vermögen behalten wollen, nicht mehr die Politik meiden, wie es die russische Regierung bis 2022 verlangte, sondern offen und überzeugend einem System die Treue schwören, das mit der Rechtfertigung des Krieges groß geworden ist. Die Große Umverteilung, die zur programmatischen These von Putins Wahlbotschaft wurde, soll eine neue antiwestliche Elite und ein neues politisches System schaffen, das den russischen Präsidenten selbst überleben wird.

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