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Kinder sind auch Menschen
Manfred Liebel und Philip Meade beklagen diskriminierenden Adultismus
Schon mal was von Adultismus gehört? Es ist nicht ehrenrührig, wenn Sie, verehrte Leser und Leserinnen, die Frage verneinen müssen. Gleichwohl werden Sie in ihrem Alltag damit konfrontiert worden sein, entweder in ihrer Kindheit oder selbst als Eltern. Das Wort leitet sich aus dem Lateinischen »adultus« ab und bezeichnet im Englischen Erwachsene und steht aber in der Wissenschaft für Vorurteile beziehungsweise eine arrogante Haltung gegenüber Minderjährigen.
Manfred Liebel und Philip Meade klären auf. Der Professor für Kinderpsychologie und der Sozialarbeiter haben mehrfach zu Adultismus publiziert und referiert. Nun bieten sie einen kurzen wie informativen Ratgeber für jene, die vom Adultismus betroffen sind – in leicht verständlicher Sprache, anschaulich und reich illustriert mit lustigen, Kinder und Jugendliche ansprechenden Cartoons von Natascha Welz sowie Fotos, teils von den Autoren selbst geschossen. Um sicherzugehen, dass ihr Büchlein von Teenagern auch gelesen wird, hat das Autorenduo das Manuskript vorab sechs jungen »Gutachtern« zu kritischer Lektüre gegeben.
Worin zeigt sich Adultismus? In der Art und Weise, wie Erwachsene Kinder und Jugendliche zu belehren versuchen, von oben herab, nicht selten im Befehlston: »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!« – »Kinder unterbrechen Erwachsene nicht, wenn sie sich unterhalten!« – »Rede keinen Quatsch!« – »Sei nicht so albern!« Auch Drohungen gehören dazu: »Wenn du nicht aufisst, kriegst du keinen Nachtisch!« – »Gleich gibt’s was hinter die Ohren!« Die Gefühle der Kinder werden nicht ernst genommen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten unterschätzt: »Das ist nichts für Kinder! Das kannst du nicht beurteilen!« Kindern wird abgesprochen, selbst Entscheidungen treffen zu können, sei es über ihr Outfit, ihre Frisuren, über Hobbys und Freizeitgestaltung.
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Nun kann man einwenden, dass es die Aufgabe von Erwachsenen sei, Minderjährigen einen moralisch-ethischen Kompass, Verhaltensnormen und praktische Ratschläge mitzugeben auf dem Weg ins Leben. Dies ist aber auch einfühlsamer und verständnisvoller möglich. Adultismus kann viele negative Auswirkungen auf Heranwachsende zeitigen, sie verunsichern, einschüchtern, Trotzreaktionen hervorrufen, sie wütend machen oder gar in Depression stürzen.
Erwachsene sind nicht immer absichtlich adultistisch, räumen die Autoren ein, vielfach nur unbedacht. Und haben vermutlich auch verdrängt, dass sie als Kinder selbst unter herbabwürdigender Behandlung oder rigiden Erziehungsmethoden litten. Beispiele für Adultismus finden sich nicht nur in der Familie, auch in der Schule, in der Jugendhilfe sowie im öffentlichen Raum.
Liebel/Meade ordnen das Phänomen in größere gesellschaftliche Zusammenhänge ein, in den Kontext der Machtausübung einer Menschengruppe über eine andere – Männer über Frauen, Weiße gegen Schwarze, Reiche gegen Arme. Und, so erfährt man hier: »Wenn Erwachsene die Erde kaputtmachen, ist auch das Adultismus. In Zukunft werden die Kinder von heute deswegen wahrscheinlich große Probleme bekommen.«
Das Duo verweist auf das 2006 in Deutschland verabschiedete Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, in dem das Problem Adultismus ausgespart blieb. Auch die Kinderrechtskonvention der Uno von 1989 erscheint Liebel und Meade ungenügend. Sie sympathisieren mit der Initiative, Kinderrechte im Grundgesetz zu fixieren. Wobei hier anzumerken ist, dass es schon sehr dienlich wäre, wenn die Kernsätze der von fast allen Staaten der Erde unterzeichneten UN-Konvention eingehalten würden, so das Recht auf Gesundheit, Bildung, Spiel und Freizeit, auf gewaltfreie Erziehung oder auf Schutz im Krieg und auf der Flucht sowie vor ökonomischer und sexueller Ausbeutung.
»Adultismus ist schlecht für Kinder. Aber auch Erwachsenen tut er nicht unbedingt gut … Das Zusammenleben ist dann anstrengender«, liest man hier. Der eine oder die andere mag sich zunächst wundern, wenn die Autoren kritisieren, dass Kinder nicht mitentscheiden dürfen, ob sie operiert werden, oder dass sie selbst kein eigenes Bankkonto eröffnen können. Beim Nachdenken darüber scheint die Argumentation von Liebel und Meade dann doch durchaus plausibel.
Im Kampf gegen Adultismus sind schon einige Fortschritte erreicht worden – bereits vor 100 Jahren mit neuen Schultypen und progressiven Bildungskonzepten von Reformpädagogen. Von Kommunisten und Sozialdemokraten unterstützte Schülerstreiks gegen reaktionäre Bevormundung gab es schon in der Weimarer Republik, wovon in diesem Büchlein ein Foto zeugt. Und heutzutage gibt es Klassensprecher*innen und Schüler*innenparlamente.
Das Büchlein beschließt ein Forderungskatalog, erstellt von neun- bis zwölfjährigen Kindern im Rahmen eines Projektes des Berliner Grips-Theaters. Da heißt es, an die Adresse der Erwachsenen gerichtet: »Denkt lieber nach, bevor ihr schreit. Auch wenn ihr beschäftigt seid, hört doch mal kurz richtig zu. Probiert doch mal die Tipps selber aus, die ihr uns gebt (zum Beispiel ein Tag ohne Handy). Erwachsene sollen nicht so tun, als ob sie alles wüssten.« Und so weiter und so fort. Das wäre tatsächlich schon ein guter Anfang, Kinder als – wenn auch kleine – Menschen ernst zu nehmen.
Manfred Liebel/Philip Meade/Natascha Welz: Was ist Adultismus. Die Macht der Erwachsenen über die Kinder. Eine Einführung für Jugendliche. Bertz + Fischer, 88 S., br., 7 €.
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