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Spurensuche nach Attentat in Moskau
Trauer um mehr als 130 Tote, viel Propaganda und bisher wenig handfeste Beweise
Noch immer tappen die Ermittler weitgehend im Dunkeln, was die Hintergründe des Attentats auf die Crocus City Hall bei Moskau angeht. Zwar wurden elf Verdächtige von russischen Sicherheitskräften festgenommen, tadschikische Pässe bei ihnen gefunden, aber viel mehr ist nicht bekannt; vier der Festgenommenen sollen direkt am Terrorakt beteiligt gewesen sein. Das russische Innenministerium erklärte, bei allen Verdächtigen handele es sich um ausländische Staatsbürger.
Bis Sonntagnachmittag war die Zahl der Getöteten auf 137 gestiegen, unter ihnen seien auch drei Kinder, erklärte das russische Ermittlungskomitee. Die Identifizierung der Toten sei noch im Gange. Seit dem Angriff am Freitagabend seien 62 Leichen identifiziert worden, außerdem seien Waffen und Munition gefunden worden: zwei Sturmgewehre und viel Munition.
Der gestrige Sonntag war zum Trauertag erklärt worden. Viele Trauernde legten am Ort des Geschehens, der Crocus City Hall am nordwestlichen Stadtrand, Blumen oder Spielzeug nieder. Die Menschenschlange zu dem improvisierten Gedenkort am Zaun des Veranstaltungszentrums erstrecke sich über mehrere Hundert Meter, meldete die Nachrichtenagentur Tass mittags.
Beobachter sprachen von einer gedrückten Stimmung in der Millionenstadt, der Terror sei überall Thema. Große Museen, Theater und Kinos waren geschlossen, Großveranstaltungen abgesagt. Szenen der Trauer gab es auch in Russlands nördlicher Metropole St. Petersburg und in anderen Städten. Im Ausland schlossen sich Serbien und Nicaragua mit eigenen Trauertagen dem Gedenken an.
Noch immer steht der russische Vorwurf im Raum, die Ukraine habe irgendwie ihre Finger im Spiel gehabt. Regierungsvertreter in Kiew haben diese Anschuldigungen zurückgewiesen. Beide Seiten schieben sich nun gegenseitig die Schuld zu und verbinden den Anschlag, zu dem sich die Terrorgruppierung Islamischer Staat-Khorasan (IS-K) bekannt hat, mit dem Krieg in der Ukraine.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am Samstagnachmittag in einer Fernsehansprache von einer angeblichen Verwicklung der Ukraine in den Terroranschlag gesprochen. Die festgenommenen Männer hätten versucht, sich zu verstecken »und haben sich in Richtung Ukraine bewegt, wo für sie ein Fenster für einen Grenzübertritt vorbereitet worden war.« Der ukrainische Militärgeheimdienst konterte Putin und wies darauf hin, dass die Grenze seit Langem vermint sei.
Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew, heute stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrats, gehörte laut »Novaya Gazeta Europe« zu den ersten, die den Anschlag mit dem »Kiewer Regime« in Verbindung brachten. Er forderte die »Hinrichtung von Terroristen und Repressionen gegen ihre Familien« und stieß kaum verhüllte Drohungen an die ukrainische Führung aus: Die »Beamten des Staates, der das Verbrechen begangen hat«, sollten »gnadenlos vernichtet« werden.
Eine Kommentatorin der Nachrichtenagentur Ria Nowosti argumentierte, dass es zweitrangig sei, wer genau das Massaker in der Crocus City Hall verübt habe – »Ukrainer, Islamisten oder andere Radikale«. Dass die Terroristen angeblich Richtung ukrainische Grenze gereist seien, lasse keinen Zweifel, »wo die Wurzeln des Terroranschlags zu suchen sind, unabhängig von der Herkunft der Täter«. Und die Kommentatorin hat auch eine klare Vorstellung von den Auftraggebern: »Die befinden sich viel weiter westlich.«
Aus der Ukraine kamen ähnliche Vorwürfe in die andere Richtung. Präsidentenberater Mychailo Podoljak erklärte, der Angriff sei das Werk Putins selbst gewesen, als Vorwand für mehr »Militärpropaganda, eine beschleunigte Militarisierung, eine erweiterte Mobilisierung und letztlich eine Ausweitung des Krieges« . Und auch, um »völkermörderische Angriffe auf die Zivilbevölkerung der Ukraine zu rechtfertigen«.
Die in Lettland ansässige Nachrichtenwebseite Meduza hat nach eigenen Angaben den Ort der angeblichen Verhaftung eines der mutmaßlichen Terroristen der Crocus City Hall geolokalisiert. Den Aufnahmen zufolge nahmen Beamte den 30-jährigen Rajab Alizade in der Nähe der Stadt Khatsun in der russischen Region Brjansk fest, etwa 140 Kilometer entfernt von der ukrainischen Grenze. Meduza habe dies überprüft durch einen Abgleich mit Google Street View. Im Internet kursieren Videos, die zeigen, wie ein russischer Sicherheitsbeamter Alizade ein Ohr abschneidet und es ihm in den Mund steckt, während er ihn schlägt.
Früheren Berichten zufolge wurde das Fahrzeug mit den mutmaßlichen Terroristen in der Nähe der Stadt Teplyi gestoppt, mehr als 200 Kilometer westlich, nur 16 Kilometer von der weißrussischen Grenze und etwa 200 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Der belarussische Botschafter in Russland, Dmitri Krutoy, erklärte laut Meduza außerdem, dass belarussische Spezialkräfte dabei halfen, die Terroristen an der Flucht über die gemeinsame Grenze zu hindern.
Nach den bisher vorliegenden Informationen steckt der Islamische Staat hinter dem Anschlag, genauer sein regionaler Ableger IS Provinz Khorasan (ISPK), der vor allem in Afghanistan aktiv ist. Der ISPK habe sich als der »am stärksten international ausgerichtete IS-Zweig« erwiesen und produziere Propagandamaterialien in mehr Sprachen als »jeder andere Zweig seit dem Höhepunkt des Kalifats im Irak und Syrien«, sagte Lucas Webber, Mitbegründer der Spezialisten-Website Militant Wire. Die Gruppe habe eine »ehrgeizige und aggressive Kampagne« geführt, um ihre »Fähigkeiten für externe Operationen zu stärken und ihre verschiedenen Feinde im Ausland anzugreifen«. Er wird auch verantwortlich gemacht für ein schweres Attentat vor wenigen Tagen in der südafghanischen Stadt Kandahar und für einen Anschlag in der iranischen Stadt Kerman.
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