Polizeigewalt in Nienburg? »Wie ein Tier im Wald erschossen«

Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert Aufklärung nach Tötung einen aus Gambia stammenden Mannes durch Polizisten

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 6 Min.

Gleich zwei tödliche Polizeieinsätze ereigneten sich innerhalb einer Woche: In Dortmund starb am vergangenen Mittwoch ein Obdachloser durch von Beamten abgegebene Schüsse. Und zuvor, am Ostersamstag, kam im niedersächsischen Nienburg ein aus Gambia stammender Mann durch Polizeikugeln ums Leben.

In Niedersachsen wird seither heftig über den Fall gestritten, denn Polizei und Staatsanwaltschaft stellten die Ereignisse völlig anders dar als die Freundin des getöteten Lamin Touray und ein Bekannter des 46-Jährigen. Sie hatten mit einem Notruf eigentlich um medizinische Hilfe für den Mann gebeten.

Was ist geschehen? Am Ostersamstag kam es in der Friedrichstraße in der Nienburger Innenstadt zu einem Großeinsatz der Polizei. Eine Gruppe Polizisten läuft auf ein Grundstück. Schüsse fallen, mehrere Kugeln treffen Touray. Wenige Augenblicke später erliegt er seinen schweren Verletzungen. Eine Beamtin wird ebenfalls durch einen Schuss aus der Waffe eines Kollegen ins Bein verletzt.

In der Folge wird die Straße abgesperrt, die Spurensicherung kommt mit großem Aufgebot. Am Abend um 20.42 Uhr setzen Staatsanwaltschaft und Polizei in der benachbarten Kreisstadt Verden eine Pressemitteilung ab. Die Beamten seien alarmiert worden, weil »ein in Tatortnähe wohnhafter 46-Jähriger« seine 40-jährige Freundin bedroht habe. Während des Einsatzes sei der Mann den mehrfachen Aufforderungen zur Deeskalation der Lage nicht nachgekommen. »Er griff stattdessen die Beamten und auch einen Diensthund, der dadurch verletzt wurde, mit einem Messer an. In der Folge kam es zu mehreren Schussabgaben durch die Polizisten, wodurch der Angreifer tödlich verletzt wurde. Die von dem Mann angegriffene Lebensgefährtin wurde körperlich nicht verletzt.«

Der Getötete wurde von acht Kugeln getroffen, bestätigte am Dienstag Koray Freudenberg, Oberstaatsanwalt in Verden. Zwei davon seien tödlich gewesen, hätten Herz und die Leber des Opfers getroffen. Wer die Schüsse abgegeben habe, sei unklar, dasselbe gelte für die Zahl der gefallenen Schüsse.

Die Staatsanwaltschaft ermittle gegen 14 beteiligte Polizeikräfte wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung. Dabei handele es sich um einen üblichen Vorgang, »um gerade auch den beteiligten Polizeibeamten Beschuldigtenrechte« zu gewähren. Die Dienstwaffen der Beamten wurden eingezogen, sie bleiben aber im Dienst.

Medien berichteten, dass Touray zwei Tage vor seinem Tod in Hamburg Bundespolizisten bedroht und angegriffen haben soll. Die Staatsanwaltschaft habe deshalb einen Haftbefehl gegen ihn beantragt, was vom zuständigen Amtsgericht aber abgelehnt worden sei. Die in Nienburg eingesetzten Beamten sollen von dem Vorfall gewusst haben, Touray soll ihnen daher als gewaltbereit gegolten haben. Aus diesem Grund und weil der Mann mit einem Messer bewaffnet war, seien so viele Einsatzkräfte vor Ort gewesen, sagte Polizeisprecherin Fenja Land in Verden.

Doch die Darstellung von Polizei und Staatsanwaltschaft bekam schnell Risse. Auf Nachfragen von Journalisten erklärte die Polizei bereits am Dienstag, Touray sei nicht vorbestraft gewesen. Es sei zwar eine »niedrige einstellige Zahl« an Verfahren gegen ihn geführt worden, die meisten seien aber eingestellt worden, in keinem Verfahren sei es um Gewalttaten gegangen.

Am Mittwoch berichtete die »Taz« über den Fall. Reporter Michael Trammer hat mit Augenzeugen gesprochen: dem Gambier Omar T., einem Freund des Getöteten, und Tourays Freundin. Diese sagt, sie habe die Notfallnummer gewählt, weil sich Touray in einem psychischen Ausnahmezustand befunden habe: »Wir wollten ihm helfen.« Touray habe aber Hilfe abgelehnt und wirr geredet.

Sie habe am Samstag vor der Tür eine Zigarette geraucht, als ihr Freund herausgekommen sei und sie und Omar T. beleidigt habe. Anders als von der Polizei später dargestellt, habe er sie aber nicht mit einem Messer bedroht, versichern beide. Statt des angeforderten Krankenwagens kam die Polizei. Als die Beamten eintrafen, habe Touray das Messer gezückt.

Sie habe ihre Hilfe angeboten und gesagt, sie könne ihn zur Aufgabe bewegen, erinnert sich die Freundin. Das habe die Polizei nicht zugelassen. Danach habe sie die Schüsse gehört: »Statt zu helfen, haben sie ihn wie ein Tier im Wald erschossen.« Anschließend habe man sie wie eine Verbrecherin behandelt, sie mit auf das Polizeirevier genommen und nicht einmal allein auf die Toilette gelassen.

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen forderte deshalb bereits am Donnerstag eine umfassende und lückenlose Aufklärung der Todesumstände Tourays. Es bleibe »unbegreiflich, wieso der Polizeieinsatz eskalierte und Lamin sterben musste«, erklärte der Verein. Zugleich fragt der Flüchtlingsrat, warum »immer wieder Schwarze und geflüchtete Menschen und Personen of Color von tödlicher Polizeigewalt betroffen« sind.

Mindestens fünf Menschen mit Fluchtgeschichte seien allein in den vergangenen vier Jahren in Niedersachsen im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen gestorben: Aman Alizada im August 2019 im Kreis Stade, Mamadou Alpha Diallo im Juni 2020 im Kreis Emsland, Qosay K. im März 2021 in Delmenhorst und Kamal I. im Oktober 2021 wiederum im Kreis Stade. Am Neujahrstag 2023 starb ein Schwarzer im Polizeigewahrsam in Braunschweig.

Auf die Mitteilung des Flüchtlingsrates reagierte die Gewerkschaft der Polizei (GdP) Niedersachsen. Sie verwahrte sich gegen »Vorverurteilungen« der Beamten und »tendenziöse Berichterstattung«. Es gelte zunächst, die Ergebnisse der Ermittlungen abzuwarten, mahnte der stellvertretende GdP-Landesvorsitzende Sebastian Timke am Freitag. Veröffentlichungen, »die einen Zusammenhang zwischen dem Verlauf des Einsatzes und der Herkunft« des Toten herstellten, seien »inakzeptabel«.

Timke betonte: »Dass ein Mensch durch eine Polizeiwaffe stirbt, ist das Schlimmste, was bei unserer Arbeit passieren kann.« Daher werde »routinemäßig« ermittelt. Es sei der GdP aber »ein wichtiges Anliegen, darauf hinzuweisen, dass diese Verfahren per se kein Hinweis auf ein mögliches Fehlverhalten der eingesetzten Kolleginnen und Kollegen sind«. Für sie seien Einsätze wie jener in Nienburg »eine Hochstresssituation«, die »im Nachgang auch für sie eine schwerwiegende Belastung« darstellten.

Der Flüchtlingsrat, beklagt die GdP, werfe der Polizei »eine strukturelle und systematische Ungleichbehandlung dieser Menschen vor, was jeder Grundlage entbehrt«. Auch die »Unterstellung, dass die Polizei Einsätze bei Menschen in psychischen Ausnahmesituationen regelmäßig aktiv zum Schusswaffeneinsatz eskaliert«, sei »nicht haltbar«. Sie stelle »nicht nur einen inakzeptablen Generalverdacht her«, sondern konterkariere »die polizeiliche Praxis, die darauf ausgelegt ist, den Schutz und die Sicherheit aller Menschen zu garantieren«.

Auch Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) warnte vor einem Missbrauch des Falles für eine »politische Debatte«. Der »Neuen Osnabrücker Zeitung« (Freitag) sagte sie: »Eine solche Instrumentalisierung ist völlig unangemessen und zeugt von wenig Sensibilität für die Situation der Angehörigen, aber auch gegenüber den eingesetzten Beamtinnen und Beamten.«

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