Tarifvertragsgesetz: Jubiläum mit Schattenseiten

Nach 75 Jahren stößt das Tarifvertragsgesetz immer mehr an seine Grenzen

Die Arbeitskämpfe des vergangenen Jahres zeigen: Der Streit um Tarifverträge bildet nach wie vor einen zentralen Pfeiler der Gewerkschaftspolitik in Deutschland. So wurden laut Bundesarbeitsministerium im Jahr 2023 mehr als 7200 Tarifverträge abgeschlossen. Insgesamt regelten über 87 000 solcher Verträge die Arbeitsbedingungen von etwa 15,5 Millionen Beschäftigten. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 waren das nur etwa 70 000 und nur knapp 5000 wurden neu abgeschlossen.

Eine positive Entwicklung, die am diesjährigen runden Jubiläum des Tarifvertragsgesetzes (TVG) zur Feierstimmung beitragen dürfte. »Seit 75 Jahren haben Beschäftigte das Recht auf bessere Arbeitsbedingungen mit Tarifverträgen«, erklärt Nadine Boguslawski, Vorstandsmitglied der IG Metall, mit Blick auf den Jahrestag. Das Gesetz wurde am 9. April 1949 in Bonn vom Parlamentarischen Rat beschlossen, noch bevor das Grundgesetz verabschiedet wurde. Bis heute regelt es, dass und wie Gewerkschaften und Unternehmen die Arbeitsbedingungen aushandeln und vertraglich festhalten.

»Doch feiern allein reicht nicht«, mahnt die Linke-Abgeordnete Susanne Ferschl gegenüber »nd«. »Durch die Deregulierungen am Arbeitsmarkt befindet sich die Tarifbindung im freien Fall«, betont sie. Laut Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung arbeiteten 2022 nur etwas mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in tarifgebundenen Jobs, 1996 waren das fast zwei Drittel. Und bloß 25 Prozent der Betriebe hätten inzwischen noch geltende Tarifverträge, Tendenz fallend.

Insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen im Osten des Landes weisen eine niedrige Tarifbindung auf, was auch Nachwirkungen aus der Wendezeit sind. Viele Betriebe wurden abgewickelt und relativ hohe Arbeitslosenzahlen führten dazu, dass Gewerkschaften in den Betrieben einen schlechten Stand hatten. Zudem musste das westdeutsche Tarifvertragsrecht neu auf die ostdeutschen Bundesländer übertragen werden.

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Doch auch große Konzerne tragen zum desolaten Zustand in der Tariflandschaft bei, wie aus einem Bericht des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) hervorgeht. So hätten von 40 führenden DAX-Unternehmen sieben keine gültigen Tarifverträge mehr. Die übrigen seien zwar in ihren Kernbereichen tarifgebunden, aber für viele ihrer Tochtergesellschaften gelte das nicht.

Aus gewerkschaftlicher Sicht stößt das Tarifvertragsgesetz derzeit vor allem mit Blick auf die rasante Transformation der Wirtschaft an seine Grenzen. Denn vor dem Hintergrund der Digitalisierung in den Betrieben wächst die Angst vor einer weiteren Individualisierung der Arbeitsverhältnisse – trotz offensiv geführter Tarifpolitik im vergangenen Jahr. Daneben werde es schwerer, mit den Beschäftigten in direkten Kontakt zu treten, etwa wenn sie im Homeoffice arbeiten, betont der DGB.

Hinzu kommt, dass durch die ökologische Transformation viele Wirtschaftszweige schrumpfen, die teils über Jahrzehnte gewachsene Mitbestimmungsstrukturen verfügten. Dagegen wachsen Unternehmen und Branchen, in denen Gewerkschaften bislang kaum vertreten sind, wie der US-Autobauer Tesla oder Lieferdienste wie Lieferando.

Darum fordert unter anderem der DGB eine weitere Reform des Tarifvertragsgesetzes. Demnach sollen etwa Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE) erleichtert werden. Damit kann das Arbeitsministerium die Gültigkeit von Tarifregelungen per Verordnung ausweiten. In der Vergangenheit wurde dies vielfach in der Bau- und Textilindustrie in Deutschland eingesetzt, um brancheneinheitliche Lohnuntergrenzen festzulegen.

Unterstützung erhalten die Gewerkschaften von der Linkspartei. Die legte in ihrem Aktionsplan zur Stärkung der Tarifbindung bereits im vergangenen Jahr konkrete Reformvorschläge zur Aktualisierung des Tarifvertragsgesetzes vor. Danach soll die Blockademöglichkeit der Unternehmen aus dem Gesetz gestrichen werden. Bislang ist die AVE nur im Einvernehmen zwischen Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer möglich.

Dadurch könnten viele Beschäftigte in derzeit unregulierten Jobs und nicht-tarifgebundenen Unternehmen leichter Zugang zu den in der jeweiligen Branche geltenden Flächentarifverträgen bekommen. Insbesondere in der Lieferbranche, im informellen Sorgebereich sowie in der Landwirtschaft, wo viele migrantische Arbeiter*innen unter prekären Bedingungen angestellt sind, könnte das die Lage verbessern.

Um die Stellung der Gewerkschaften zu stärken, fordert Die Linke in ihrem Aktionsplan zudem ein Verbot sogenannter OT-Mitgliedschaften. Die erlauben es Unternehmen derzeit, Mitglied in einem Arbeitgeberverband zu sein, ohne unter die jeweils geltenden Tarifverträge zu fallen. Damit würden die Verbände in die Pflicht genommen, »ihrer Verantwortung als Tarifpartner wieder vollumfänglich und für alle ihre Mitglieder nachzukommen«, wie es im Entwurf heißt.

Während ein solches Verbot und die Erleichterung von AVE derzeit wenig aussichtsreich ist, sieht das mit Blick auf das Tariftreuegesetz anders aus. Laut nd-Recherchen will die Regierung noch im Frühjahr einen ersten Entwurf vorlegen. Danach dürfen Unternehmen von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden, wenn sie geltende tarifliche Regelungen unterlaufen. Das soll die Tarifbindung stärken, erklärte DGB-Chefin Yasmin Fahimi.

Der Handlungsbedarf ist gegeben. Denn mit der Mindestlohnrichtlinie der Europäischen Union haben sich die Mitgliedsstaaten bis Ende des Jahres zu einer Tarifbindung von 80 Prozent verpflichtet. Wird die Quote nicht erreicht, muss in Absprache mit den Unternehmen und Gewerkschaften ein Aktionsplan vorgelegt, wie DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell betont.

Allerdings wehren sich die Unternehmensverbände dagegen und kritisieren, dass das in die grundgesetzlich verbriefte Tarifautonomie eingreifen würde. Sie befürworten eine Aufweichung des Gesetzes und wollen individuell ausgehandelte Betriebsvereinbarungen gleichberechtigt neben die Tarifverträge treten lassen.

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