Die Gesichter von Freunden

An etwas festhalten oder etwas ausprobieren, wenn das angeblich eigentlich gar nicht geht: »Haus«, das neue Album von Nichtseattle

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 9 Min.
Eine der großen Songschreiberinnen unserer Zeit: Katharina Kollmann
Eine der großen Songschreiberinnen unserer Zeit: Katharina Kollmann

»Der isst in Ruhe sein Quinoa/ seine Bete, spricht von Yoga/ Hört nicht auf, entspannt zu grinsen,/ der und seine Bio-Beluga-Linsen!« Die Berliner Musikerin, Songschreiberin und Lyrikerin Katharina Kollmann, die sich im Bühnenleben Nichtseattle nennt, rechnet in ihrem Song »Beluga« mit den typischen Hipster-Performern ab. Die lesen zwar »so stolz Bücher von Frauen«, faseln vom »Konzept Liebe«, wissen generell Bescheid (zum Beispiel, »dass sich alles regelt ›allein durch den Markt‹«) und machen »miese Witze«, doch in einem wirklichen Leben ist mit denen nicht viel anzufangen. Da hilft nur: Reißaus nehmen! Abhauen! »Ich tret auf unsere Marktanteile,/ schieß die weg und fahr ne Weile/ nachts durch meine Zuhausestadt.«

Diese »Zuhausestadt« ist eine Utopie von Nichtseattle, die sie den Leuten in ihrer »Eigentumswohnung« entgegenhält, in einem der zentralen und wundervoll ohne Rücksicht auf Radiotauglichkeit acht Minuten spannend vor sich hin mäandernden Songs ihres neuen Albums.

Nichtseattle singt eine Ode auf die Verletzlichkeit, sie ist eine moderne Schwester des Sisyphos: »All die Versuche machen uns wund.« Aber daraus gewinnt sie Stärke, aus Verletzlichkeit und Offenheit wird Selbstermächtigung: »Es ist der allerbeste Grund,/ ein bisschen unverschämt zu leiden,/ ein bisschen doll zu übertreiben,/ sich ein bisschen blöde zu verknallen,/ immer wieder aus so einer Welt zu fallen,/ die keine echten Häuser trägt.« Und ihr »allerschönster Fund« auf der nächtlichen Reise durch die Zuhausestadt sind »so Gesichter von Freunden, die ganz ruhig erzählen, was sie gerade wirklich fühlen«.

»Haus« heißt das neue Album von Nichtseattle, die spätestens seit dem Vorgängeralbum »Kommunistenlibido« zu den großen Songschreiberinnen unserer Zeit gehört. »Haus«, das ist natürlich ein nicht ganz neuer Topos in der Popmusik: »Our house is a very, very, very fine house«, sangen Crosby, Stills, Nash & Young 1970. Dort gibt es eine Katze im Hof, das frühere Leben war zwar hart, aber »now everything is easy cause of you and our house«; so einfach und unterkomplex ging es damals in der kalifornischen Hippie-Welt zu – Songwriter Graham Nash konnte eine Ode auf die selige Häuslichkeit schreiben, die er mit Joni Mitchell in deren Haus im legendären Laurel Canyon lebte.

Im kapitalistischen Realismus unserer Tage ist alles komplizierter, und Nichtseattle dekliniert die Möglichkeiten der Zuhausestadt durch: »Eigentumswohnung«, »Tagescafé«, »Plattenbauwohnung«, »Altbauwohnung«, »Papierhaus«, »Türrahmen«, »Fahrgastunterstand«, »Proberaum«, »Schloss«: das sind Untertitel ihrer Songs und mithin Optionen von »Zuhause«. Das Zelt ist die vielleicht einfachste, alles noch offenhaltende Behausung, vor dem die Musikerin auf dem Albumcover zu sehen ist.

»Treskowallee« lautet der Titel des zugehörigen Songs, in dem die Sängerin sich als »Sportbeutelkind« sieht (welch schöne Wortschöpfung, gewissermaßen ein Gegenpol zu den bekannten Baseballschlägerjahren), »das stundenlang allein nachhause geht/ und sich den Beutel um die eigenen Beine schlägt« und »ohne zu gucken über die Treskowallee« geht. Das singt sie zu einer eigenwilligen E-Gitarren-Melodie, und zu ihren Seufzern »Na ja«, »Na so« und »Na und« kommen unterschiedliche, leicht angeschrägte Akkordeonskizzen hinzu. In der letzten Strophe bleibt die Band bei ihr – laut wird die Sängerin nur, wenn sie von »all euern bescheuerten Möglichkeiten« in diesen Zeiten singt; und der Song, der auch ein ganz eigenartiges Liebeslied ist, endet mit einer traumverlorenen Klarinettenmelodie.

Auf den Zelt-Song folgt »Unterstand (Schirmpilz)«, in dem Nichtseattle den wesentlichen Bestandteil ihres utopischen Hauses ausformuliert, nämlich die Gemeinschaft, die Verwandtschaft aller Menschen (einen Begriff, den sie sich von Donna Haraway geliehen hat): »Ich glaub, wir sind alle verwandt./ Es ist der eine Unterstand,/ unter den wirklich alle passen,/ denn im Regen kann er wachsen.« Ein Haus ist kein Ding, sondern ein Verhältnis. Das Haus der Katharina Kollmann ist ein Verb.

In diesem Song können wir auch ein gerne eingesetztes Stilmittel der Künstlerin beobachten: Je nach Inhalt der vorhergehenden Strophe wird der Refrain eines Songs verändert. War von verliebter Nähe die Rede, singt sie: »Ich glaub, wir sind alle verwandt.« Wenn der andere sich plötzlich ohne Erklärung zurückzieht, »einfach weg« will und »nur noch Ruhe« sucht, lautet der Refrain: »Ich glaub, hier ist keiner verwandt/ Es gibt keinen Unterstand!« Um dann angesichts von neuer Nähe – »es war deine Haut und meine/ es sind immer wenn dann beide« – wieder zum hoffnungsvollen Ursprungsrefrain zurückzukehren: »auf festen Boden, so kann es gehen,/ weil wir hier nicht alleine stehen«.

In diesem Song findet sich auch eine schöne, vierzeilige Referenz an ein wundervolles Lied von Gerhard Schöne: »Ich glaub, das waren wir beide,/ wenn wir hier liegen, an uns noch Kreide,/ mit der groß an den Wänden steht:/ Ich will, dass das hier nie vergeht!«, so besingt Nichtseattle ihren »Vielleicht wird’s nie wieder so schön«-Augenblick.

Überhaupt fällt immer wieder eine gewisse DDR-Liedkunst positiv auf. Ich würde mich vielleicht sogar auf den Küchentisch von, sagen wir, Gröne- oder Distelmeyer stellen und ihnen ins Gesicht sagen, dass seit Gisela Steineckert (zum Beispiel »Die Ausgezeichnete« über ein Gemälde von Wolfgang Mattheuer), Werner Karma oder Fritz-Jochen Kopka (ich denke auch an »Sehnsucht nach der Schönhauser« von Barbara Thalheim, wenn ich Nichtseattles »Treskowallee« höre) niemand mehr so gute deutsche »Pop«-Songtexte geschrieben hat wie Katharina Kollmann. Sie ist eben auch eine hervorragende Lyrikerin.

Da ist ein ganz eigener, zärtlich-feiner Sound in ihren Zeilen. Und hin und wieder gelingt ihr sogar ein Brecht’scher Moment, zum Beispiel, wenn sie in »Unterstand« eine positive Utopie entwickelt, diese in der nächsten Strophe widerruft, um schließlich zu ihr zurückzukehren. Das erinnert an Brechts »Von der Freundlichkeit der Welt« aus der »Hauspostille« (1927) und das »Gegenlied« (1956) dazu, nur eben alles in einem einzigen Song. Brechts »Gegenlied« endet übrigens ebenfalls mit einer »Zuhausestadt«-Utopie: »Besser scheint’s uns doch, aufzubegehren/ Und auf keine kleinste Freude zu verzichten/ Und die Leidenstifter kräftig abzuwehren/ Und die Welt uns endlich häuslich einzurichten!«

Nichtseattle wagt es, immer wieder »ich« zu sagen, mal selbstbewusst, mal zweifelnd und fragend. »Ich finde es schön, wenn man sich zeigt«, sagt sie. Und dafür nimmt sie sich in fast jedem Lied ihres Albums jede Menge Zeit – eben genau so viel, wie nötig ist, wie der jeweilige Song braucht, auch wenn das sechs oder acht Minuten sind, was jedem Radioformat hohnspricht. Ihr »Ich« ist stets nur eine Möglichkeit des eigenen Selbst und völlig frei von Egoismus und eitler Bauchnabelbeschau.

In »Frau sein (Werkstatt)«, einem anderen zentralen Song – wenn die (Musik-)Welt eine andere, bessere wäre, wäre das fraglos ein Hit, der allüberall rauf und runter gespielt würde – spielt sie mit uns ein Verwirrspiel: »Will ich nicht,/ ich will das nicht!/ Frau sein, Frau sein«. Aber wie sie das singt: Sie betont »Frau« und schiebt »sein« kurz hinterher. Und dann: »Mach ich nicht, ich mach das nicht!« Und schließlich: »Ich würde gar nichts sagen,/ sie einfach nur umarmen«, dem sie ein lapidares »doch das kann sie nicht so lang« hinzufügt.

Im folgenden »Heiterprofan (Proberaum)« geht’s gleich los mit: »Ich will auch!/ Heiterprofan«, und sie dichtet schöne Zeilen wie »Wo ich bin, ist hier:/ Betonwände vier« oder »Manche nennen’s frei,/ ich lose Hände zwei«. Und eben Sisyphos: »Hoch den Berg mit Stein/ Wochenende, nein.«

Und die Musik? Im Waschzettel der Plattenfirma werden als Referenzen PJ Harvey, Nirvana oder »folkiger Indierock« genannt, und man merkt dem die verlegene Frage an, auf den Boden welcher Schublade man das alles nun festnageln soll. Ich denke, wir hören hier vor allem eine neue, an Folk orientierte und sehr raffiniert arrangierte Kammermusik, eher Eisler als Americana (und manchmal kann man vielleicht auch an Element of Crime denken). Dazu immer wieder indierockige Ausbrüche. Aber sie ist eben »nicht Seattle«, das ist hier kein Grunge oder Rock ’n’ Roll oder Punk oder irgendwas mit »Post-«.

Nichtseattle spielt raffiniert mit der Dynamik und den Harmonien, mit über- und gegeneinandergeschichteten Sounds und Instrumentengruppierungen. Gerne verwendet sie ihre Bariton-Gitarre solistisch, als perfektes Gerüst für ihre Poesie. Wenn weitere Instrumente oder Chorgesänge hinzukommen, sind diese Effekte klug gewählt. Zu hören sind vorsichtige Bläsereinsätze, feine Akkordeonklänge, manchmal sogar ganz überraschend Blockflöten – und die verhalten-wunderbaren Harmoniegesänge sind zum Niederknien, beispielsweise der Chor bei »und wenn wir könnten, blieben wir einfach immer hier«. Katharina Kollmann ist eine versierte Arrangeurin, ihre Mitmusiker*innen sind hervorragend, und die Produzenten Olaf O.P.A.L. und Sönke Torpus gewähren der Musik den notwendigen Raum.

Leise spielen ist immer komplizierter und schwieriger als alles Laute. Und sensibel denken, beobachten und schreiben macht mehr Mühe, ist aber erfüllender und oft erkenntnisreicher. Erst vor wenigen Tagen ist auch das neue Album von Adrianne Lenker erschienen. Auch sie ist eine Songwriterin, die mit einer akustischen Gitarre und ihrer Stimme alles ausdrücken kann, auch sie hat eine Band um sich geschart, die behutsam und mit feinen Nuancen den Songs eine zusätzliche Farbe verleiht. Aber wo Lenker einer Art Neo-Lo-Fi zugerechnet werden kann, ist Nichtseattle eher Neo-Hi-Fi. Es sind so oder so wieder einmal die klugen Frauen, die uns etwas Neues über unsere Welt und unser Dasein zu erzählen haben, und die das mit außerordentlichem ästhetischen Bewusstsein tun.

Doch Katharina Kollmann fügt all dem noch eine zusätzliche Ebene hinzu. Sie singt Nachrichten aus dem in der heutigen, Mittelklasse-affinen Popkultur meist ignorierten Prekariatsland. Ein »Haus« ist für einige nur eine Kapitalanlage, ein Investment, eine von den Eltern geerbte »Altbauwohnung« (»wie auch immer – am Ende wollen’s alle a lichtdurchflutete Altbauscheiße«, wusste schon Helmut Dietl). Dem setzt Nichtseattle ihre Utopie von Solidarität und Kollektivität entgegen, die nicht an der Türschwelle endet. Im Gespräch verrät sie, ihr sei wichtig, auch und gerade an etwas festzuhalten oder etwas auszuprobieren, wenn das angeblich eigentlich gar nicht »geht«.

Vielleicht hat sie diese Haltung als in Berlin-Karlshorst aufgewachsenes DDR-Kind gelernt und als im nicht herausgeputzten Teil des Prenzlauer Bergs lebende Frau verfeinert. Als Ort unseres Gesprächs hat sie die Kulturmarkthalle inmitten der Plattenbauten des Mühlenkiez ausgewählt, einen 2018 aus einer ehemaligen Kaufhalle entwickelten sozialen, nichtkommerziellen Kultur- und Begegnungsort, in dem sie auch den »Kaufhallen-Chor« leitet. Dort ist »jedermensch« willkommen, ein Möglichkeitsraum im besten Sinne also, eine Utopie – ein Zuhause für alle.

»Mir kommt es so vor, dass Ost-Linke etwas anders sind als West-Linke. Dass Ost-Linke etwas sozialistischer sind – man guckt etwas systemischer auf die Welt und nicht so individuell-moralisch«, formuliert Katharina Kollmann, während aus dem Nebenraum das Klackern der Tischtennisbälle zu hören ist. »Alles einreißen und vor Trauer dann lachen«, singt sie im letzten Lied ihres Albums. Und es endet: Am Morgen danach »können wir einfach hier sein und uns verwandt machen!« Lasst uns also unbedingt ins Haus der Nichtseattle einziehen und eine neue Verwandtschaft leben. Auch wenn das einstweilen vielleicht nur ein Schirmpilz, ein Proberaum oder ein Zelt sein mag.

Nichtseattle: »Haus« (Staatsakt). Im Frühjahr auf Tour

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