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Hussam Fadl: Immer noch kein Beweis für ein Messer

Berliner Zivilprozess wegen Schmerzensgeld und Entschädigung steht vor dem Abschluss

Kein Einzelfall: Tödliche Polizeigewalt
Kein Einzelfall: Tödliche Polizeigewalt

Kurz vor Schluss versucht das Land Berlin noch einmal alles über den Haufen zu werfen. Am Mittwochmorgen wurde erneut über den Fall von Hussam Fadl verhandelt, der im September 2016, vor mittlerweile fast acht Jahren, von der Polizei erschossen wurde. Es ging aber nicht um Schuld oder Unschuld der Todesschützen, sondern darum, ob das Land Berlin für die Folgen der Tat finanziell haftbar ist. Seine Witwe Zaman Gatea hat das Land auf Schmerzensgeld und Entschädigung für den Unterhaltsausfall für ihre 10, 14 und 15 Jahre alten Kinder verklagt. »Ich erhoffe mir Gerechtigkeit«, sagt sie zu »nd«.

Der Anwalt des Landes Berlin beantragt, den Zivilprozess vor dem Landgericht Tegel auszusetzen, bis das parallel laufende Strafverfahren abgeschlossen ist. Aber der Verzögerungsversuch scheitert, die Richterin weist den Antrag ab. »Dass hier das Verfahren ausgesetzt werden soll, ist ein Versuch des Landes Berlin, das Verfahren auf die ganz lange Bank zu schieben«, meint einer von Gateas Anwälten, Ulrich von Klinggräff, zu »nd«. Man könne das kaum anders interpretieren, als dass auch der Beklagtenvertreter realisiert habe, wie die Beweislage sei, und eine Entscheidung scheue.

Es ist nur eine von vielen Verschleppungen in diesem Fall. Im Strafverfahren gegen die Polizeischützen hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen bisher immer eingestellt, weil sie von einer Nothilfesituation ausgeht. Nach einem Urteil des Landesverfassungsgerichts muss aktuell das Kammergericht Berlin über ein Klageerzwingungsverfahren entscheiden.

Unstrittig ist, dass am 27. September 2016 die Polizei zu einer Geflüchtetenunterkunft in Moabit gerufen wurde, weil ein Bewohner die Tochter von Fadl und Gatea sexuell missbraucht hatte und von anderen Bewohnern festgehalten wurde. Nach der Festnahme lief Fadl auf den Täter zu, der sich entweder schon in oder noch vor einem Polizeiwagen befand. Dann fielen vier Schüsse, einer verletzte Fadl tödlich.

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Die zentrale Frage, um die immer wieder gestritten wird: Hatte Fadl ein Messer in der Hand? Im Wesentlichen stützt sich die staatsanwaltlich-polizeiliche These im Strafverfahren auf diese Annahme. Im Zweifel für die angeklagten Polizisten. Im hiesigen Zivilverfahren gelten aber andere Spielregeln: Das Land Berlin muss zweifelsfrei beweisen, dass Fadl ein Messer bei sich hatte, als er erschossen wurde.

Aber bis auf die Polizeizeugen hat niemand ein Messer bei Fadl gesehen. So auch der erste Zeuge, der am Mittwoch vernommen wird. Er habe in der ganzen Zeit kein Messer gesehen, sagt der 32-jährige ehemalige Bewohner der Geflüchtetenunterkunft. Aber er will sich daran erinnern können, gehört zu haben, wie jemand »Messer!« gerufen habe. Aus den Protokollen seiner ersten, direkt nach den tödlichen Schüssen erfolgten Vernehmung geht hervor, dass er damals nichts von solchen Rufen berichtet hatte. Erst in einer zweiten Vernehmung, zwei Jahre später, taucht das auf, genauso wie der Bericht von einem Geräusch eines nicht näher bestimmten harten Gegenstandes, den er fallen gehört haben will, als Fadl von den Kugeln tödlich getroffen zusammenbrach.

Auch der zweite Zeuge kann nichts von einem Messer berichten. »Er war mein bester Freund. Wir waren immer zusammen«, erzählt der 43-Jährige. Nachdem Fadl auf dem Boden lag, seien alle von der Polizei weggeschickt worden. »Alle dachten, sie haben ihn nicht getötet, denn wir sind in Deutschland«, sagte er. Aber nach acht Jahren kann er sich nicht mehr an viele Details erinnern.

In seinem Abschlussvortrag trägt der Anwalt des Landes Berlin dick auf. Die Aussage des heute gehörten Zeugen, er habe jemanden »Messer!« rufen hören, und dass einer der Polizisten gefragt habe: »Wo ist das Messer?«, nachdem Fadl niedergeschossen wurde, seien Indizien dafür, dass ein Messer dort gewesen sei. »Wenn es keins gibt, warum hätte er das rufen sollen?« Dass ein Messer dagewesen sei, halte er für nachgewiesen. Er schließt mit der Behauptung: »Der Schuss war gerechtfertigt

Ulrich von Klinggräff hält dagegen. Die Beweisführung sei abenteuerlich und »Rosinenpickerei«. Der Anwalt des Landes berufe sich auf Aussagen von Beschuldigten, die im parallelen Strafverfahren von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen und im Gegensatz zu Zeug*innen keiner Wahrheitspflicht unterliegen. »Die Zeugen können als Beschuldigte lügen, dass die Balken biegen.« Das mindere den Beweiswert der Aussagen. Denn kein*e andere Zeug*in habe zweifelsfrei von einem Messer berichtet. Seine Kollegin Beate Böhler pflichtet ihm bei: Der Beweis für ein Messer wurde nicht geliefert.

Ein Urteil ergeht in der Verhandlung nicht. Die Richterin kündigt an, entweder am selben Tag oder zu einem zeitnahen Verkündungstermin zu entscheiden. Zaman Gatea sagt nach dem Prozess, sie habe »gemischte Gefühle«, und dass es schwierig sei, immer wieder zu hören, wie ihr Mann erschossen wurde. Im Nachgang des Verfahrens ist Anwältin Beate Böhler zuversichtlich: »Ich denke, die Beweisaufnahme hat ergeben, dass das keine Nothilfe ist. Für dieses Verfahren müsste es meiner Auffassung nach eindeutig sein, dass der Klage vollumfänglich stattgegeben wird.« Vielleicht gibt es ja zumindest im Zivilverfahren ein bisschen Gerechtigkeit.

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