Krach im Elfenbeinturm

Vor 350 Jahren entdeckte Isaac Newton das Gravitationsgesetz und entwickelte die Differential- und Integral- rechnung. Darüber geriet er in heftigen Streit mit Leibniz. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 8 Min.

Um ein Haar würden wir die Geschichte der Physik heute ohne Isaac Newton schreiben. Denn der Sohn eines Gutsherren, der am 25. Dezember 1642 in dem englischen Dorf Woolsthorpe geboren wurde, war ein Siebenmonatskind und so schwächlich und klein, dass er, wie es hieß, in ein Litergefäß (quartpot) gepasst hätte. Doch wunderbarerweise überlebte Newton, sein Vater allerdings war bereits vor der Geburt seines Sohnes gestorben. Newtons Mutter heiratete daraufhin ein zweites Mal, zog in das Haus ihres Ehemanns und gab den kleinen Isaac in die Obhut der Großmutter.

Manche Biografen führen Newtons schwierigen Charakter auf die misslichen familiären Erfahrungen seiner Kindheit zurück. Unbestritten ist, dass der Begründer der modernen Physik arrogant und rechthaberisch war, sich von Frauen fernhielt und seine Interessen wenn nötig mit unlauteren Mitteln durchsetzte. Von Letzterem wird noch ausführlich zu reden sein.

Nach dem Besuch der Lateinschule in Grantham erhielt Newton mit 18 Jahren einen Studienplatz am Trinity College in Cambridge, das der Ausbildung von Geistlichen diente. Auch Newton beschäftigte sich ausgiebig mit Bibelkunde (was er übrigens ein Leben lang tat). Sein besonderes Interesse galt jedoch der Mathematik und den Naturwissenschaften, in die er sich auf Anregung seines Lehrers Isaac Barrow, der selbst ein bedeutender Mathematiker war, systematisch vertiefte. 1664 bestand Newton die sogenannte Stipendienprüfung und erlangte damit den Status eines finanziell unabhängigen Scholars.

Kurz darauf brach in England die Pest aus, die allein in London fast 70 000 Todesopfer forderte. Auch die Universität Cambridge wurde 1665 geschlossen und Newton dadurch veranlasst, in sein Heimatdorf zurückzukehren. Für die Geschichte der Wissenschaft war das ein Glückfall. Denn während seines Aufenthalts in Woolsthorpe erlebte Newton sein »annus mirabilis«, sein Wunderjahr, in dem er den Grundstein für drei seiner größten Entdeckungen bzw. Erfindungen legte: das Gravitationsgesetz, die Theorie des Lichts und die Differential- und Integralrechnung, auch Infinitesimalrechnung genannt (von lat. infinitesimal = unendlich klein, gegen Null strebend). Tatsächlich ist es mit dieser Art zu rechnen möglich, eine Funktion auf beliebig kleinen Abschnitten widerspruchsfrei zu beschreiben.

Die Idee, dass sich zwei Körper mit einer Kraft anziehen, die mit der Größe ihrer Massen zu- und dem Quadrat ihres Abstandes abnimmt, kam Newton 1666 im häuslichen Garten - nachdem vor seinen Augen ein Apfel vom Baum gefallen war. So zumindest erzählte es später Voltaire und versicherte, die Geschichte von Newtons Nichte Catherine Barton erfahren zu haben. Was wirklich geschehen war, lässt sich heute natürlich nicht mehr rekonstruieren. Historiker halten die Apfelgeschichte eher für eine Legende, was nicht ausschließt, dass Newton in Woolsthorpe tatsächlich eine Art Heureka-Erlebnis hatte und daraufhin dem Phänomen der Schwerkraft theoretisch auf den Grund ging. Allerdings unterließ er es, seine damals gewonnenen Erkenntnisse zu publizieren.

Das sollte sich rächen. Denn Jahre später behauptete der englische Naturforscher Robert Hooke, dass er das Gravitationsgesetz zuerst entdeckt habe, aber so unvorsichtig gewesen sei, Newton darüber zu informieren. Es dauerte bis zum Jahr 1684, ehe Newton sich von dem Astronomen Edmond Halley überreden ließ, seine Theorie der universellen Gravitation zu veröffentlichen. Halley hatte Newton zuvor besucht und ihm folgende Frage gestellt: Auf welcher Kurve bewegt sich ein Planet, der von der Sonne mit einer Kraft angezogen wird, die dem Quadrat der Entfernung umgekehrt proportional ist? »Auf einer Ellipse«, antwortete Newton ohne Zögern. »Woher wissen Sie das?« fragte Halley nach. Darauf Newton: »Ich habe es berechnet.« Allerdings konnte er das entsprechende Papier nicht finden und versprach Halley, ihm den Beweis nachzuliefern. Als dies geschehen war, begann Newton mit der Niederschrift seines epochalen Werkes »Philosophiae Naturalis Principia Mathematica«, mit dem er 1687 den Grundstein zur klassischen Physik legte. Da der Royal Society die Mittel fehlten, um den Druck zu finanzieren, übernahm Halley die Kosten.

Zwar räumte Newton ein, dass Hooke ihm in gewisser Weise den Weg zum Gravitationsgesetz gewiesen habe. Allerdings war er nicht bereit, dies auch in seinem Buch anzuerkennen. Denn längst waren aus beiden Wissenschaftlern erbitterte Feinde geworden, die sich Schaden zufügten, wo sie nur konnten.

Die zweite wichtige Entdeckung, die Newton in seinem Wunderjahr 1666 machte, betraf das Licht. Durch ein Loch in einem geschlossenen Fensterladen hatte er weißes Sonnenlicht auf ein dreikantiges Prisma fallen lassen und dabei bemerkt, dass auf der gegenüber liegenden Wand ein langgestrecktes Oval aus Regenbogenfarben entstand. Weißes Licht, so schloss Newton, ist nicht ein einheitliches Grundphänomen, sondern setzt sich aus farbigen Bestandteilen zusammen. Um zu bestätigen, dass er die Sonnenstrahlen tatsächlich zerlegt hatte, führte Newton den umgekehrten Versuch durch. Das heißt, er vereinigte die farbigen Lichtstrahlen mit einer Sammellinse wieder zu weißem Licht. Auch hier widersprach Hooke vehement, denn er hielt weißes Licht für elementar und die verschiedenen Farben für optische Störungen desselben.

Angeregt unter anderem durch den französischen Philosophen und Mathematiker René Descartes entwarf Newton in seinem »annus mirabilis« überdies die Grundzüge der Infinitesimalrechnung, die er selbst »Fluxionsrechnung« nannte. Seinen Freunden erzählte er wohl davon, zum Beispiel Barrow, jedoch vermied er es, seine Ergebnisse zu publizieren. Selbst in seinem 1687 erschienenen Hauptwerk, den bereits erwähnten Principia, bediente Newton sich noch der traditionellen geometrischen Begrifflichkeit. Erst 1704 gab er im Anhang seines Buches zur Optik eine vorläufige Darstellung der Fluxionsmethode.

Erneut sollte Newtons Geheimniskrämerei Folgen haben. Denn der deutsche Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz war inzwischen ebenfalls zur Differential- und Integralrechnung gelangt. Außerdem erwies sich dessen Zeichensystem als eleganter und leichter handhabbar. Von Leibniz stammt zum Beispiel die bis heute übliche Notation von Differentialen wie dx und dy. Gleiches gilt für das Integralzeichen ∫, das aus dem Buchstaben S für Summe abgeleitet ist.

1684 veröffentlichte Leibniz seine erste Arbeit zur Infinitesimalrechnung, ohne darin ein Wort über die Fluxionsmethode zu verlieren. Newton nahm dies zunächst mit Gelassenheit zur Kenntnis. Das änderte sich, als der Schweizer Mathematiker Johann Bernoulli Leibniz als den Erfinder des neuen Kalküls feierte. Nun holte Newton - angestachelt von einigen englischen Mathematikern - zum Gegenschlag aus und bezichtigte seinen Kontrahenten des Plagiats. Zum Beleg führte Newton an, dass er 1676 einen Briefwechsel mit Leibniz geführt habe. Dabei sei er von diesem geistig bestohlen worden. Ein solcher Briefwechsel fand tatsächlich statt, allerdings waren darin Newtons vage Hinweise auf die Fluxionsrechnung für Leibniz unauflöslich verschlüsselt.

Im Sinne Newtons deuteten dessen Anhänger auch die Tatsache, dass Leibniz 1673 nach London gereist war, um der Royal Society eine von ihm selbst konstruierte Rechenmaschine vorzuführen (was damals jedoch misslang). Bei einem zweiten Besuch gewährte man sogar ihm Einblicke in unveröffentlichte, bei der Royal Society hinterlegte Manuskripte von Newton. Doch in Leibniz’ Notizen hierzu, so hat man festgestellt, findet sich nichts, was als Stoff für ein Plagiat geeignet gewesen wäre.

Im Jahr 1708 eskalierte der Streit der Giganten. Nachdem Leibniz von einem englischen Mathematiker als Fälscher tituliert worden war, beschwerte er sich darüber in zwei scharfen Briefen an die Royal Society. Das hätte er besser unterlassen, denn der Präsident der Royal Society hieß seit 1703 Isaac Newton und beherrschte die Gesellschaft nach Belieben. Sogleich setzte Newton eine Kommission ein, die klären sollte, ob ihm oder Leibniz die Priorität bei der Entwicklung der Infinitesimalrechnung gebühre. Natürlich werde die Kommission unparteiisch entscheiden, verkündete Newton scheinheilig. Dabei war ihm klar, dass deren Mitglieder alle auf seiner Seite standen. Das Ergebnis fiel erwartungsgemäß negativ für Leibniz aus. Heute weiß man, dass der Abschlussbericht der Kommission, der Newtons Priorität bestätigte und Leibniz zum Plagiator stempelte, größtenteils von Newton selbst stammte. Er habe Leibniz »mit dieser Antwort das Herz gebrochen«, stellte der große Physiker im Nachhinein befriedigt fest. Dagegen wollte Leibniz bis zuletzt nicht wahrhaben, dass Newton persönlich hinter seiner ungerechten Verurteilung stand.

Während Leibniz am 14. November 1716 einsam und verbittert mit 70 Jahren in Hannover starb, erreichte Newton trotz seiner schwächlichen Gesundheit das gesegnete Alter von 84 Jahren. Noch zu Lebzeiten wurde er mit Ehrungen überhäuft, in den Adelsstand erhoben und nach seinem Tod in der Westminster Abbey beigesetzt. Er gilt heute zu Recht als einer der größten Denker in der Geschichte der Menschheit, wie übrigens auch Leibniz, der als Universalgelehrter ein Werk hinterlassen hat, mit dessen Erschließung sich noch heute Scharen von Wissenschaftlern beschäftigen.

Selbst nach Leibniz’ Tod wurde der Streit um die Infinitesimalrechnung fortgeführt. Er vergiftete das Verhältnis zwischen englischen und kontinentaleuropäischen Mathematikern über mehrere Generationen. Zum Schaden vor allem für die Engländer, die sich weiterhin an die komplizierte und technisch unterlegene Fluxionsmethode klammerten. Dadurch verlor die englische Mathematik, der Newton einst zu Glanz und Anerkennung verholfen hatte, für viele Jahre den Anschluss an die kontinentale Konkurrenz, die sich des eleganten Kalküls von Leibniz bediente. Ironie der Geschichte: Nach heutigen Maßstäben würde nicht Newton, sondern Leibniz als alleiniger Erfinder der Infinitesimalrechnung gelten, denn er hatte seine Erkenntnisse zuerst veröffentlicht. Einzuwenden bliebe hier allerdings, dass die wissenschaftliche Kommunikation im 17. Jahrhundert nicht über Fachzeitschriften, sondern primär mündlich oder durch den Austausch von Briefen erfolgte. Das Urteil der Mathematikhistoriker fällt daher heute einheitlich aus: Newton und Leibniz haben die Infinitesimalrechnung unabhängig voneinander entwickelt. Beide gelten als deren Schöpfer.

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