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Grand Hotel Kritische Theorie

Der US-amerikanische Historiker Philipp Lenhard hat eine Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung vorgelegt

  • Anneke Schmidt
  • Lesedauer: 6 Min.
Frankfurt, 31. Januar 1969: Die Polizei trifft zur Räumung der Besetzung im Institut für Sozialforschung ein.
Frankfurt, 31. Januar 1969: Die Polizei trifft zur Räumung der Besetzung im Institut für Sozialforschung ein.

Es ist mittlerweile wohl eine ideengeschichtliche Selbstverständlichkeit, dass die historische Genese ein wichtiger Bestandteil des Verständnisses von Theorien ist. Dass diese Geschichte nicht nur die Geschichte genialer Geister, sondern (auch) eine Geschichte »physischer und symbolischer Räume« ist, rückt trotz Spatial turn und Neuem Materialismus oft in den Hintergrund. Der in Berkeley lehrende Historiker Philipp Lenhard betreibt eine solche Fühlung mit dem Raum in seinem umfassenden Werk »Café Marx – Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule«, welches sich, nach Angabe des Autors, in eine Reihe mit Vorgängerwerken wie denen von Martin Jay, Rolf Wiggershaus und Helmut Dubiel stellt.

Angesichts dieser (bereits interdisziplinär aufgestellten) Standardwerke mag die zum 100-jährigen Jubiläum der Institutseinweihung erscheinende Monografie nicht wie ein Desiderat wirken. Mit »Grand Hotel Abgrund« hat der Publizist Stuart Jeffries 2019 sogar ein dem Namen nach ähnliches Werk veröffentlicht. Während es Jeffries trotz seines – einer Polemik Georg Lukács’ entliehenen – Titels an den Hotelbewohnern, namentlich den großen Vertretern, nicht dem Hotel, gelegen ist, ist der Titel bei Lenhard Programm. Er erzählt die Geschichte des Instituts, das für ihn viererlei Bedeutung hat: als ein physischer Ort in Form eines Gebäudes mit einer Adresse und Materialität, einem Begegnungsraum nicht nur verschiedener Personen, sondern auch verschiedener Personengruppen, einer in die Wissenschaftslandschaft eingebundenen Forschungseinrichtung und »eine[r] sich über die Zeit seines Bestehens permanent verändernde[n] Idee«.

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Glutkern der Frankfurter Schule

Während es zunehmend dem Zeitgeist zu entsprechen scheint, Inhalte im Kontext ihres Entstehens zu begreifen, wird der Kontext in »Café Marx« zum Inhalt. Dabei entsteht jedoch keine alternative Sichtweise auf die Personen, Ideen und Entwicklungen, sondern ganz im Gegenteil ein scharfer Blick auf den Glutkern der »Frankfurter Schule« in ihren wechselnden ebenso wie den gleichbleibenden Facetten – inklusive den aus dem Zentrum gerückten großen Namen.

Beginnend bei den Lebenserfahrungen des Mäzens und Vaters vom späteren Institutsstifter Felix Weil spannt Lenhard den Bogen weit. Von lokalpolitischen Interessen über intime Beziehungen bis hin zu Sachzwängen des Exils »erspart« der Autor der Leser*in kein Detail, sodass die Kontingenz dessen, was wir heute unter Kritischer Theorie verstehen, schmerzhaft deutlich hervortritt, ebenso jedoch ihre gesellschaftliche Notwendigkeit. Wie weit Lenhard sich dabei in die ideengeschichtliche Peripherie wagt, verdeutlicht ein Blick in das über 800 Einträge umfassende Personenregister. Hier finden sich neben Philosophen wie Hegel und Kant auch die Namen jedes Geheimrats, Bürgermeisters oder Affidavit-Verfassers, der eine Rolle bei den Arbeits-, Lebens- und Entstehungsbedingungen gespielt hat.

Dass das Vorhaben dabei nicht ausfranst, sondern ein dichtes Netz aus Philosophie, politischer und ökonomischer Realität und Zwischenmenschlichkeit entsteht, in dem sich diese Faktoren Erkenntnis bringend ergänzen, verdankt sich auch dem erzählerischen Können des Autors, der offensichtlich dem allzu deutschen Diktat des trockenen akademischen Schreibens entkommen ist. Die bemerkenswert gute Lesbarkeit ist gerade angesichts der Fachkenntnis und der Menge an eingeflossenem Archivmaterial keine Selbstverständlichkeit und geht nicht auf Kosten des inhaltlichen Anspruchs. Dieser Anspruch ist es, die Geschichte eines Projektes zu erzählen, welches mit der Absicht, »dem Marxismus eine von jeder außerwissenschaftlichen Einmischung freie akademische Heimstätte zu schaffen«, begann.

Diese Pläne mündeten nach einiger Überzeugungs- und Organisationsarbeit in der Eröffnung des Instituts unter dem aus Wien abgeworbenen ersten Institutsdirektor Carl Grünberg. Der überzeugte Marxist war ideologisch nicht allein, bei großen Teilen der Mitarbeitenden ging das Interesse am Marxismus als Wissenschaft auch mit praktischem kommunistischem Aktivismus einher, waren doch fast alle Beteiligten der ersten Generation durch die »hochindustrialisierte Todesmaschine« Erster Weltkrieg radikalisiert worden. In Opposition fand man sich jedoch nicht nur gegenüber dem Status quo, sondern auch gegenüber dem Parteikommunismus. Die Revolution war gescheitert, und statt den Umsturz zu planen, galt es Reflexion zu betreiben.

Vertreibung im NS

Ab 1931 übernahm der Philosoph Max Horkheimer die Direktion des Instituts und etablierte das noch heute als Kern der Kritischen Theorie wahrgenommene Zusammenspiel von Gesellschaftstheorie und Sozialforschung, öffnete sich der Psychoanalyse. Mit der Zeitschrift für Sozialforschung traten den weiteren Weg des Instituts prägende Personen aufs Programm.

Nur zwei Jahre später, im März 1933, wird das als »zersetzend« gebrandmarkte Institut von der Kriminalpolizei geschlossen und versiegelt. Nun waren beinahe alle der wichtigsten Mitarbeitenden nicht nur Marxisten, sondern auch Jüdinnen und Juden. Spätestens ab 1933 waren sie akut gefährdet. Durch vorausschauende Planung Max Horkheimers konnte das Institut nach Genf verlegt werden, einige Mitarbeiter emigrierten nach Paris und Felix Weil brachte das Vermögen der Stiftung rechtzeitig ins Ausland. Horkheimer verlegte den Institutssitz erneut, diesmal nach New York, wo er eine Kooperation mit der Columbia University einging. Die meisten Mitarbeitenden folgten ihm in den kommenden Jahren in die USA.

Hier begann der wissenschaftliche Charakter des Instituts die uns heute bekannte Form anzunehmen. Es entstanden zentrale Texte und Forschungsarbeiten, Horkheimer und Adorno schrieben »Die Dialektik der Aufklärung«, ein Schlüsselwerk, in dem die Essenz der Kritischen Theorie niedergeschrieben steht, wie Lenhard in seiner Einleitung bemerkt. Zugleich entstanden Arbeiten im Bereich der Sozialwissenschaften, insbesondere der Faschismus- und Antisemitismusforschung, die durch ihre Zusammenführung von Empirie und Analyse gänzlich neue Wissenschaftsstandards setzten. Die Kritische Theorie war eine philosophisch, soziologisch und psychoanalytisch fundierte Ideologiekritik der herrschenden Verhältnisse geworden.

Herausforderung ’68

1946 luden der Frankfurter Oberbürgermeister und der Rektor der Frankfurter Universität formell dazu ein, das Institut wieder in Frankfurt zu errichten, woraufhin Horkheimer eineinhalb Jahre später nach Frankfurt reiste. 1951 wurde ein neues Institutsgebäude errichtet und das zurückgekehrte Institut nahm die Arbeit auf. Weitere fünfzehn Jahre blieb Horkheimer Institutsdirektor und wurde nach seiner Emeritierung 1964 von Theodor W. Adorno abgelöst.

Die sogenannten 68er waren eine Herausforderung für das Institut, welches einerseits auf marxistischer Tradition beruhend Wissenschaft betrieb und sich andererseits dem Vorwurf der verstaubten Institution durch die herrschaftskritischen Studierenden gegenübersah. Die Mitarbeitenden des Instituts positionierten sich gegenüber der Studentenbewegung unterschiedlich, die Fronten waren verhärtet. Im August 1969 starb Adorno überraschend, »Studentenführer« Hans-Jürgen Krahl drohte seinen Genoss*innen mit Gewalt, sollten diese die Beerdigung durch Proteste stören.

Als das Institut im Sommer 1974 seinen Geburtstag mit einer Vorlesungsreihe feiert, kommen die beiden Hauptredner – Herbert Marcuse und Leo Löwenthal – aus den USA eingeflogen. Auch andere Redner reisen an, Frankfurt ist nicht mehr das Zentrum der Kritischen Theorie. Heute hat der marxistische Theorieansatz weiter an Gewicht verloren. Namen wie Habermas und Honneth sind mit eigenen sozialphilosophischen Ansätzen verbunden, an verschiedenen Hochschulen (nicht nur in Deutschland) führen versprengt Schüler*innen der »Frankfurter Schule« deren Ansätze fort.

Mit der historischen und ideengeschichtlichen Erzählung, die Philipp Lenhard um eine nie dagewesene Menge an Nebenfiguren und Schauplätzen erweitert, hat er eine Verortung der Kritischen Theorie vorgenommen, die auch ohne großen Fokus auf heutige Auswüchse eine inspirierende Lektüre mit vorwärts gewandtem Blick darstellt. Dem begründet kurz gehaltenen Ausblick in das zerstreute Nachleben der Theorieströmung hätte Lenhard guten Gewissens die eigene Arbeit anfügen können: In seiner Betrachtungsweise von Konstellationen, Anekdoten und Orten nähert er sich seinem Gegenstand genau in ihrem Sinne.

Philipp Lenhard: Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule. C. H. Beck, 624 S., geb., 34 €.

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