Gewerkschaften: Kampf um Selbstbestimmung

Bernd Riexinger hält Arbeitszeitverkürzung und Vier-Tage-Woche nicht nur vor dem 1. Mai für die Forderungen der Stunde

  • Bernd Riexinger
  • Lesedauer: 5 Min.

Dieses Jahr jährt sich der Kampf um die 35-Stunden-Woche zum 40. Mal. So lange ist es her, dass die damalige IG Druck und Papier (heute in der Gewerkschaft Verdi) und die IG Metall in einem mehrwöchigen harten Arbeitskampf einen Stufenplan für eine neue Regelarbeitszeit durchsetzen konnten. Statt 40 nur noch 35 Stunden Wochenarbeitszeit. In einigen Branchen konnten die Gewerkschaften nachziehen, jedoch mit deutlich geringeren Verkürzungen von einer bis zweieinhalb Stunden (etwa im Einzelhandel). Im öffentlichen Dienst arbeiten mehrere Millionen Beschäftigte 39, im Osten gar 40 Stunden. Eine Pflegerin oder eine Erzieherin arbeitet also rund 20 Stunden mehr im Monat als ein Arbeiter in der Metallindustrie, und das seit 40 Jahren.

Trotzdem gab es seither keine auch nur annähernd mit 1984 vergleichbare Tarifauseinandersetzung um Arbeitszeitverkürzung. Mal wollte es die Basis angeblich nicht, mal waren die Zeiten ungünstig, mal war mehr Geld wichtiger, mal waren die Kräfteverhältnisse ungünstig. Trotz zahlreicher Beschlüsse auf Gewerkschaftstagen wurde eines der wichtigsten und attraktivsten Zukunftsprojekte, der Kampf um mehr selbstbestimmte Zeit, nicht mehr auf die Tagesordnung gesetzt.

Es scheint jedoch wieder Bewegung in die Debatte zu kommen. Der DGB stellt den 1. Mai unter das Motto »Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit«. Die Bahngewerkschaft GdL, die nicht im DGB ist, hat durch ihren Kampf für die 35-Stunden-Woche bei der Bahn die gesellschaftliche Diskussion um die Arbeitszeit belebt, ebenso die IG Metall mit ihrer Forderung nach der Vier-Tage-Woche in der Stahlindustrie. Von Verdi-Funktionär*innen ist zu erfahren, dass es an der Basis im Vorfeld der kommenden Tarifrunde für Bund und Kommunen eine starke Forderung nach Arbeitszeitverkürzung gibt. Viele Pflegekräfte, Erzieher*innen, Bus- und Straßenbahnfahrer*innen, aber auch Verwaltungsangestellte halten den Dauerstress einfach nicht mehr aus.

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Wer es sich leisten kann, geht in Teilzeit und verkürzt individuell und ohne Lohnausgleich. Und viele Frauen werden durch die immer noch unzureichenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten in Teilzeit gezwungen. Der schon chronische Personalmangel ist nicht nur den vergleichbar niedrigeren Löhnen, sondern auch den stressigen Arbeitsbedingungen geschuldet. Fast 100 000 ausgebildete Pflegekräfte haben den Beruf verlassen, weil sie ihre Ansprüche auf gute Pflege nicht einlösen können oder weil sie die Dauerbelastung nicht aushalten. Bessere Arbeitsbedingungen und kürzere Arbeitszeiten könnten diese Arbeit deutlich attraktiver machen.

Mehr Zeit zum Leben

Es kommt jedoch auch von einer anderen Seite wieder Bewegung in die Sache: In der Gesellschaft gibt es ein wachsendes Bedürfnis danach, Arbeit und Leben in Einklang bringen zu können. Auch Männer wollen mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Das ist gut für die Geschlechtergerechtigkeit. Jüngere Menschen betrachten Zeitwohlstand als wichtiges Gut. In den Medien wird das, oft abfällig, als Work-life-Balance bezeichnet und mit der Bemerkung verbunden, jüngere Leute wollten gar nicht mehr richtig arbeiten.

Trotzdem setzt dieses gesellschaftliche Bedürfnis auch die Unternehmerseite unter Zugzwang. Manche Betriebe bieten ihren Beschäftigten eine Vier-Tage-Woche mal mit, mal ohne Lohnausgleich an, um in Zeiten des Fachkräftemangels ihre Attraktivität zu erhöhen. In England experimentierten 61 Firmen in einem Pilotprojekt mit einer Vier-Tage-Woche bei 32 Stunden und vollem Gehalt. Die Ergebnisse ergaben: eine deutlich größere Zufriedenheit der Beschäftigten, weniger Fehltage und höhere Produktivität. Außerdem stieg die Zahl der Bewerber*innen um 60 Prozent.

Während Die Linke diese Debatte aufgreift und die Einführung einer Vier-Tage-Woche gefordert hat, gibt es zugleich heftigen Widerspruch von Konservativen, Arbeitgeberverbänden und Wirtschaftsminister Robert Habeck. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wartete unlängst mit dem abenteuerlichen Spruch auf, dass es anstrengungslosen Wohlstand nicht gebe. Habecks Kommentar war ähnlich: »Jedenfalls wird ein bisschen im Moment zu viel für immer weniger Arbeit gestreikt beziehungsweise geworben. Und das können wir uns in der Tat im Moment nicht leisten«.

Klassen- und Kulturkampf

Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung sind in der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung immer auf den heftigen Widerstand des Kapitals und der von ihnen repräsentierten politischen Parteien gestoßen. Warum? Weil es um die Verfügungszeit über die Arbeitskraft, um die Prägung der Alltagskultur, um die Anpassung der Menschen an die Erfordernisse der Lohnarbeit geht. Mehr Zeit bedeutet mehr Selbstbestimmung, Emanzipation, bessere Voraussetzungen für Geschlechtergerechtigkeit, für andere Maßstäbe dafür, was im Leben wichtig ist. Zeit, die der Profitlogik entzogen ist, schafft Raum für politisches und zivilgesellschaftliches Engagement. Und sie verändert, als selbstbestimmte Zeit, das Verhältnis zur fremdbestimmten Zeit, schafft mehr Eigensinn und Widerstand gegen schwer erträgliche Zumutungen.

»Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen«, war eine beliebte Parole auf den Demos und Kundgebungen 1984. Aber Zeitwohlstand ist auch noch aus einem anderen Grund heute hochaktuell: In Anbetracht der drohenden Klimakatastrophen ist er Kern eines neuen Wohlstandbegriffes. Statt der ständigen Steigerung des Konsums schnell verschleißbarer Waren muss es heute um ein befriedigendes soziales Zusammenleben und den (kostenfreien) Zugang zu öffentlichen Gütern gehen.

Arbeitszeitverkürzung war deshalb immer eine sowohl tarifliche als auch politische Auseinandersetzung. Die Unterstützung tariflicher Kämpfe im politischen Raum, sei es im Parlament oder außerhalb, ist eine wichtige Aufgabe der gesellschaftlichen und der Partei-Linken. Es geht dabei aber nicht »nur« um Tarifforderungen, sondern um eine gesellschaftliche Zukunft, in der sich die Arbeitszeit am Leben orientiert und nicht das ganze Leben der Arbeit unterordnen muss.

Der Autor ist Bundestagsabgeordneter der Linken. Lange war er in Stuttgart Sekretär der Gewerkschaft Verdi, von 2012 bis 2021 Ko-Vorsitzender der Linkspartei.

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