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Bulat Okudschawa: Eine Trauer, eine Sehnsucht
Die Tribünen waren oft höher als die Siege: Vor 100 Jahren wurde der russisch-georgische Liedermacher Bulat Okudschawa geboren
Jauchzende Freude, als ich in der Vorschau des Lukas-Verlags den Band »Bulat Okudschawa: Mein Jahrhundert. Lieder und Gedichte« entdeckte. Denn die Lieder dieses russischen Chansonniers (1924-1997) liebe ich. Wie wünschte ich mir, sie wieder zu hören. Gleich rief ich Ekkehard Maaß an, seinen Nachdichter, Sänger und Herausgeber. Am Telefon erzählte er, dass es oft jahrelange Arbeit brauchte, um bei der deutschen Fassung so nah wie nur irgend möglich am Original zu bleiben. Im Band kann man Original und Übersetzung vergleichen und ermessen, was er geleistet hat. Weil er kein eigenes dichterisches Credo zu verteidigen hat, würde er nicht der Versuchung erliegen, den anderen sich selbst anzugleichen. »Die Lieder Bulat Okudschawas sind für mich wie Landschaften, in denen ich ein Leben lang spazieren gehen kann, ohne zu ermüden«, schreibt er im Nachwort.
Was für ein Kontrast zu dem selbstverliebten Wolf Biermann, der für den Band das Vowort verfasste und auf der Leipziger Buchmesse mehr für sich als für das Buch Reklame machte. »Ein literarischer Dolmetsch darf nicht mit hängender Zunge hündisch dem Original hinterherhecheln«, erklärt er im Vorwort. Wahrscheinlich steht ihm der von ihm »Schreihals« genannte Wladimir Wyssozki sowieso näher als dessen »romantischer Gegentyp«, dieser »dunkle georgische Kaukasus-Mann« mit der »Lenin-Glatze«.
Geboren wurde Bulat Okudschawa am 9. Mai 1924, als das noch nicht der »Tag des Sieges« war, als Kind kommunistischer Eltern, die er früh verlor. Der Vater, ein hoher georgischer Parteifunktionär, wurde 1937 als »Trotzkist« erschossen, die Mutter als »Frau eines Volksfeindes« für 18 Jahre in ein sibirisches Arbeitslager gesteckt. Der Sohn wuchs bei der Großmutter in Moskau und Georgien auf und meldete sich 1942 freiwillig an die Front. Schwer verwundet überlebte er – als Einziger in seiner Einheit.
Das wusste ich nicht, als ich ihn im Dezember 1976 im Berliner Palast der Republik zum ersten Mal erlebte. So wie ich damals vieles nicht wusste, wohl auf eine eher unbewusste Weise verstand oder mir das nahm, was zu meiner Stimmung passte. Da werde ich nicht die Einzige sein, die beim Lesen dieses Buches das Einst und das Heute überdenkt. Unwillkürlich habe ich mitgesungen: »Das Lied vom Moskauer Ameis«, das »Gebet« (»Solang sich noch die Erde dreht«), »Mozart spielt auf einer uralten Geige«, »Er schließlich kam und trat ins Haus« oder das »Georgische Lied«. Mit seinen pazifistischen Aussagen (»Krieg, verfluchter, was hast du uns angetan«) habe ich mich auch damals im Einklang gefühlt. Heute geht einem das »Lied von den Soldatenstiefeln« mehr denn je unter die Haut.
Dass »zwischen den Zeilen Leid und Trauer der Kriege und Diktaturen des vorigen Jahrhunderts spürbar« werden, »die auch meine deutsch-baltischen Vorfahren erleben mussten«, schreibt Ekkehard Maaß. In ihren Nachbemerkungen betonen er und Katja Lebedewa das Dissidentische bei Okudschawa, das sie beide auch lebten, während ich Redakteurin für Auslandsliteratur im »ND« war. Der Okudschawa-Band mit Liedtexten, Noten, einer Schallplatte und einem Interview, 1985 im Verlag Volk und Welt erschienen, steht seitdem bei mir im Regal.
Was ich damals auf Russisch las, blieb mir wörtlich in Erinnerung. Als etwas Ureigenes – eine Trauer, eine Sehnsucht. So wie der »himmelblaue Luftballon« aus dem gleichnamigen Lied. Dass die Tribünen oft höher waren als die »Siege«, die es zu feiern galt – es stimmte doch. Überhaupt gehörte das Fragende, Grübelnde zur sowjetischen Literatur, wie wir sie liebten. Katja Lebedewa hat Recht, dass diese »traurig-ironischen Verse« eine Alternative boten zur offiziellen Staatskultur mit ihrer »künstlichen Munterkeit und ihrem patriotischen Pathos«. Protest gegen stupid Ideologisches – von dem man sich überhaupt abwenden kann (und sollte), wenn man ein nachdenklicher Mensch ist.
Bulat Okudschawa ist am 12. Juni 1997 gestorben. Vielleicht nehme ich heute den Schmerz deutlicher wahr, der für seine Kunst so prägend ist. Dieser poetisch-melancholische Ton – es war und ist für mich der Klang von Moskau. »Ach Arbat, mein Arbat« – noch vor fünf Jahren bin ich dort an einem Abend im Mai spazieren gegangen und habe Okudschawas Lied vor mich hin gesummt.
Bulat Okudschawa: Mein Jahrhundert. Lieder und Gedichte. Russisch/Deutsch. Herausgegeben, nachgedichtet und kommentiert von Ekkehard Maaß. Illustrationen von Moritz Götze. Lukas-Verlag, 136 S., br., 20 €.
nd-Literatursalon mit Ekkehard Maaß: 15. Mai 2024, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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