8. und 9. Mai in Berlin: Demütigung am Treptower Ehrenmal

Sowjetische Fahnen am Tag der Befreiung und Tag des Sieges in Berlin verboten

Der russische Botschafter Sergej Netschajew (Mitte) am 9. Mai mit Georgsband am Treptower Ehrenmal
Der russische Botschafter Sergej Netschajew (Mitte) am 9. Mai mit Georgsband am Treptower Ehrenmal

Als Conny Renkl am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park seine rote Fahne entrollt, werden Hammer und Sichel sichtbar. Anders als bei sowjetischen Fahnen prangen sie aber nicht klein am linken oberen Rand, sondern groß in der Mitte. Obwohl Hammer und Sichel das Symbol kommunistischer Parteien überall in der Welt sind, hält ein Polizist Renkls Flagge für eine sowjetische und schreitet ein. »Packen Sie die Fahne ein und breiten Sie sie nicht wieder aus«, verlangt der Beamte. Er greift schon danach, als Renkl das Tuch bedächtig und unter Protest sorgfältig zusammenlegt.

Auch andere erleben das in Berlin am 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Faschismus, und am 9. Mai, dem Tag des Sieges. Russische und sowjetische Fahren sind an beiden Tagen an den Ehrenmalen in Treptower Park, im Tiergarten und in der Schönholzer Heide verboten wie schon im vergangenen Jahr. Ukrainische Fahnen sind dagegen zulässig und so eine zeigt Henry Lindemeier am 9. Mai im Treptower Park. Postiert hat er sich rechts neben dem Aufgang zu der berühmten Plastik eines Soldaten mit gesenktem Schwert und Kind auf dem Arm. Vor Lindemeier steht ein Kranz mit Friedenstaube und blauen und gelben Blumen von Lindemeiers Freundeskreises für Demokratie und fairen Frieden. »Ein Tag des Sieges gegen die Invasoren – gestern, heute, morgen«, lautet die Botschaft, die schwer falsch zu verstehen ist.

Lindemeier war Pazifist, hat 1982 an der legendären Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten teilgenommen und bis Mitte 2021 geglaubt: »Je weniger Waffen Deutschland hat, desto besser!« Nie hätte er gedacht, dass Russland die Ukraine überfallen wird, sagt er. »Für mich war es ein sehr starker Bruch«, schildert der 61-Jährige seinen Sinneswandel. Nach dem russischen Angriff im Februar 2022 habe er viel geweint, gesteht Lindemeier. Heute sei er »tief enttäuscht«, weil Deutschland nicht viel stärker aufrüste und viel mehr Waffen an die Ukraine liefere. Er meint: »Wenn wir ein friedliches Europa wollen, muss die russische Gesellschaft so gedemütigt werden wie die deutsche Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg.«

Durch Lindemeiers Aktion fühlen sich etliche Menschen provoziert, die gekommen sind, um Blumen an den Gräber sowjetischer Soldaten zu legen, die 1945 bei den Kämpfen um Berlin gefallen sind. »Wir ehren sie unter Bedingungen, die eigentlich jeder Beschreibung spotten«, beklagt Stefan Natke, Landesvorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei. Es sei unerträglich, dass die Enkel der 1945 besiegten Nazis den Enkeln der Sieger verbieten, sowjetische Fahnen mitzubringen.

Vor Ort zeigen mehrere Polizisten Verständnis für die Verbitterung und bitten ihrerseits um Verständnis, dass sie gezwungen seien, das Flaggenverbot durchzusetzen. Der eine oder andere sieht sogar bewusst weg und drückt so eine Auge zu. Aber an den beiden Eingängen werden die Taschen kontrolliert, was zeitweise zu langen Schlangen führt.

Die Lage ist etwas unübersichtlich. Nicht erlaubt sind zwar auch Uniformen und die zaristischen Georgsbänder, die heute in Russland wieder Mode sind. Doch Diplomaten dürfen tun, was sie wollen, und stecken sich Georgsbänder an. Militärattachés erscheinen in Uniform. Um den Kranz der russischen Botschaft windet sich selbstverständlich ein russisches Fahnenband. Auch die Botschaften anderer Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind mit Kränzen vertreten. Beinahe einträchtig vereint finden sich sogar die Kränze von Ascherbaidschan und Armenien, obwohl diese Länder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehrfach Krieg gegeneinander führten. Wenig überraschend machen die Ukraine, die baltischen Republiken, Georgien und Moldau nicht mehr mit. Der ukrainische Kranz wird seit 2023 zur Neuen Wache gebracht.

Betroffen vom Verbot der sowjetischen Flagge ist auch die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA. Sie stellte früher am 8. Mai stets die Fahnen der vier Siegermächte auf und muss seit 2022 darauf verzichten. Neu ist dieses Jahr, dass die Treptower VVN-Vorsitzende Ellen Händler nicht mit dem Auto aufs Gelände darf, um Tontechnik und Stühle auszuladen. »Das ist ein Skandal!«

500 Nelken hat die VVN gekauft und gibt sie zum Preis von 1,50 Euro ab. An jedem Stiel ist ein Aufkleber befestigt, auf dem »Mir« und »Njet Wojna« steht. Ein Polizist ist misstrauisch und holt einen Kollegen, der Russisch versteht und ihm bestätigt, dass dies nichts anderes als »Frieden« und »Nein zum Krieg« heißt. Kein Problem mit dem Aufkleber haben Russen, die diese Nelken kaufen. »Wir sind alle gegen Krieg«, versichert eine Frau. Vergangenes Jahr war noch zu beobachten, wie manche den Aufkleber entfernten. Aber diesmal landen einige der Nelken samt Aufschrift sogar direkt vor dem Kranz der russischen Botschaft.

Einen Kranz von Bundes- und Landesvorstand sowie Abgeordnetenhausfraktion der Linken bringt am 8. Mai vormittags ein Blumendienst, bei dem er bestellt wurde. Die Auftraggeber kommen erst am Nachmittag. Schon früh um 9 Uhr ist die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch mit einem Kranz am Tiergartendenkmal. Sie wartet dort 20 Minuten auf ihre Kollegin Gökay Akbulut, die erst einmal den Eingang finden muss. Denn weil am Brandenburger Tor die Fanmeile zur Fußball-EM aufgebaut wird, ist das Ehrenmal weiträumig abgesperrt und der einzige noch mögliche Zugang schwer zu erkennen. So werde es denkbar schwer gemacht, hier der Befreiung zu gedenken, erkennt Lötzsch verärgert. Den mitgebrachten Kranz platziert sie an einer Säule mit den Namen gefallener Rotarmisten. Einer davon ist der junge Sergant Schalajew. 1923 geboren, starb er am 26. April 1945.

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