Lina Beckmann spielt ihre Kunst voll aus

»Laios«, der fulminante zweite Teil des Hamburger Antikenprojekts »Anthropolis«, gastiert beim Berliner Theatertreffen

  • Andreas Schnell
  • Lesedauer: 4 Min.
Füllt den großen, beinahe leeren Raum bei diesem Soloabend voll aus: Lina Beckmann.
Füllt den großen, beinahe leeren Raum bei diesem Soloabend voll aus: Lina Beckmann.

Klar, den kennt man: Ödipus. Bringt seinen Vater um, schläft mit seiner Mutter. Beides mit Ansage, aber ohne es zu wollen. Ein Mythos, den sich die alten Griechen erzählten. So im Sinne von: Die Wege des Herrn sind unergründlich, salopp gesagt.

Menschen, die ins Theater gehen, wissen das. Auch dass Zeus die Prinzessin Europa als Stier entführte und mehrere Kinder mit ihr hatte, ist Basiswissen im Bildungsbürgertum. Lina Beckmann, die zurzeit am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg im Antikenzyklus »Anthropolis« zu sehen ist, fragt es am Anfang von »Laios«, des zweiten Teils der Reihe, ab. Es ging ziemlich bunt zu bei den Göttern und Göttinnen im alten Griechenland, das damals ja noch ganz jung war. Oder auch: »Kranke Scheiße«, wie es Beckmann mit den Worten des Autors Roland Schimmelpfennig nennt, während sie die Vorgeschichte des eineinhalbstündigen Abends aufblättert, der das Publikum regelmäßig von den Sitzen reißt und nun beim Berliner Theatertreffen zu sehen ist.

»Kranke Scheiße«, damit ist auch die Geschichte von Laios gemeint, die das gleichnamige Stück erzählt. Laios ist eher eine Nebenfigur, für die Schimmelpfennig auf Grundlage antiker Erzählungen eine komplexe Biografie geschaffen hat, die die Regisseurin (und Hamburger Intendantin) Karin Beier als Solo für Lina Beckmann eingerichtet hat.

Das blutige, komplizierte Vorspiel mit multipler Fragwürdigkeit nimmt die Schauspielerin, die auch in »Prolog/Dionysos«, dem ersten Anthropolis-Teil spielt, als Rampe für einen – man muss es sagen – furiosen Ritt durch den Abend, in dem sie ihre Kunst voll ausspielt, ausgehend von einem lockeren Plauderton, in dem sie erzählt, kommentiert, immer wieder mögliche Varianten durchgeht, denn die Quellenlage ist ja eher dünn.

Dann wieder schlüpft sie in Szenen, gibt den einzelnen Figuren Kontur und Tiefe. Dabei schafft sie grandiose Miniaturen wie die der Seherin, der Laios und Iokaste in einer Dönerbude begegnen. Zum Steinerweichen hustend und dabei eine Zigarette drehend, ringt sich die Seherin Pythia die düstere Prognose ab. Wie Laios von den Bürgern Thebens zum König gemacht wird, um endlich Ordnung und Vernunft regieren zu lassen, performt sie als hintersinniges Maskenspiel, als Sphinx blickt sie im blauen Paillettenkleid in die Zukunft. Umwerfend.

Eine Handvoll Requisiten, eine Video-Episode (Voxi Bärenklau), über die mit etwas Dunklem verschmierte Rückwand der Bühne (Johannes Schütz) flackernde Digitalisate und ein subtiler Soundtrack von Jörg Gollasch – mehr steht Lina Beckmann nicht bei, aber sie füllt diesen großen, beinahe leeren Raum voll aus. Dass dabei eben keine geschlossene Erzählung entsteht, macht einen substanziellen Teil des Charmes von Schimmelpfennigs Text aus.

War Chrysippos, der junge Geliebte von Laios, vielleicht doch nicht schon immerhin 17 oder 18 Jahre alt, sondern eher acht oder neun? War es gar nicht die große Liebe, die ihn Laios folgen ließ, sondern eher Gewalt? Ist der Vogel am Morgenhimmel, der vielleicht in Wirklichkeit auch ein Abendhimmel war, ein Vogel? Oder doch eher eine fliegende Katze – oder eine singende Frau mit Flügeln?

Nicht nur Geschichte wird gemacht. Deren durchgesetzte Deutung macht sie letztendlich erst zu dem, was sie ist. Und dieser »Laios« lässt das immer wieder spüren, verweigert sich der Behauptung von Allwissenheit. Zugleich wird die Welt der Mythen mit der Gegenwart verstrebt: die Dönerbude, der an dem im Video als Hippie-Trüppchen vorgestellte Freundeskreis des Laios vorbeifahrende Zug, der womöglich entscheidende Worte des blinden Sehers Teiresias verschluckt. Zigaretten gab es damals natürlich auch nicht.

Wie in den klassischen Serienformaten nicht nur unserer Zeit, endet »Laios« mit einem Cliffhanger. Drei weitere Teile folgen, die man übrigens in Hamburg vom 24. bis 26. Mai direkt hintereinander bingen kann, wie es heute heißt. Natürlich längst ausverkauft, das Schauspielhaus bastelt aber an neuen Terminen.

Ich wette nur ungern, aber »Laios« hat hervorragende Aussichten, das Stück dieses Theatertreffens zu sein.

Vorstellungen im Rahmen des Berliner Theatertreffens: 14. und 15. Mai
www.berlinerfestspiele.de/theatertreffen

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