Mannequin Pussy: Es ballert

Das neue Album »I Got Heaven« der Punk-Indie-Pop-Band Mannequin Pussy

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 3 Min.
Plattenbau

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Mannequin Pussy liefern das Beste beider Welten aus Pop-Melodien und Krach.
Mannequin Pussy liefern das Beste beider Welten aus Pop-Melodien und Krach.

Pop-Melodien und Krach, das Beste beider Welten. Auf dem neuen Album »I Got Heaven« der US-amerikanischen Punk-Indie-Pop-Band Mannequin Pussy verbindet sich das, was Punkrock auf einen sozusagen ausüben (Schalldruck) und mit einem machen kann (Auf- und Abspringen und Ärmchen in die Luft), mit einer euphorieseligen Melodiösität. Kurz: »I Got Heaven« ballert ganz traumhaft. Zum Beispiel der Titelsong, besser kann man so was eigentlich nicht machen: Gitarristin Marisa »Missy« Dabice schreit einen eine Strophe lang dringlichst an, in der zweiten geht die Stimme dann runter und schraubt sich wieder rauf Richtung Refrain. Der kommt heftig mit »Ooooh ooooh«-Chören und Keyboard-Fanfaren. In den letzten dreißig Sekunden verbindet sich beides miteinander in einem Finale, das in jeder mittelgroßen Halle eine respektvolle Saalschlacht auslösen sollte.

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Von da an wechselt das vierte Album von Mannequin Pussy immer wieder die Register. Was alle Songs verbindet, egal ob sie ruhiger gestimmt sind (»Loud Bark«, »Split Me Open« oder »I Don’t Know«), Sommerhit-Indiepop sein wollen (»Nothing Like«) oder Richtung Hardcore ausscheren (»OK? OK! OK? OK!«, »Aching« oder »Of Her«): Sie sind von einer Dringlichkeit bestimmt, die sich herstellt über die Stimme von Marisa Dabice, die zwischen glasklar und Geröhre und Geschrei alterniert. Die sich stimmlich überschlagene Dauerenergie, die hier auf Hörerin und Hörer überschwappt, findet man ansonsten bei den frühen Sachen von Kathleen Hanna oder auch bei Corin Tucker und Carrie Brownstein, den beiden Sängerinnen von Sleater-Kinney und nur sehr wenigen weiteren Orten.

Was Mannequin Pussy mit den drei zuletzt genannten noch gemein haben, ist eine radikale Offenheit in den Texten, in der Beschreibung von emotionalen Ausnahmezuständen, die aber nichts Runterziehendes hat, sondern gemeinsam mit der Musik nach vorne will. Also dahin, wo es besser wird im Wissen, dass man den Scheiß, der einen quält, erst einmal mitnehmen muss, wenn man ihn loswerden will. Im Hit »Drunk II«, zu hören auf dem 2019er-Album »Patience« sang Dabice über die alkoholselige Zeit nach einer Trennung, einfach und klar: »I was so fucked up, I forgot we were broken up«. Das Ganze ist ein Abschiedslied, das bei allen, die versuchen, von jemandem loszukommen, Wunder wirken kann. Nicht, indem es einen Triumph herbeisingt, sondern indem es in das Scheißgefühl reingeht und es quasi von innen heraus zerstört.

Dazu braucht es die Suggestion maximaler Offenheit und auch mal eine Überschreitung der Grenzen des guten Geschmacks. Im Song »I Got Heaven« geht das lyrische Ich von einer Verzweiflung aus (»I’m stuck inside my loneliness / I’m stuck inside my grief«) und stellt dann sich und der oder dem Angesungenen einige Fragen: »And what if I’m an angel? / Oh, what if I’m a bore? / Would you just hate me more?« Katharsis ist da bestenfalls ein Hilfsausdruck, wenn es klickt, geht es einem nach diesem Song potenziell um Meilen besser, und das auch dann, wenn es einem gar nicht schlecht geht. Auf dem Album »I Got Heaven« konzentriert sich eine intensive Euphorie, die entsteht, wo eine*r aus einem »endless march to nothingness« ausschert Richtung Selbst- und Wiederfindung.

Mannequin Pussy: »I Got Heaven« (Epitaph Europe/Indigo)

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