Drohnen aus der Türkei: Tod aus heiterem Himmel

Die Türkei setzt massiv Drohnen ein und verdient gut an ihrem Verkauf in alle Welt. Vor allem in Afrika sind sie beliebt

  • Tim Krüger, Janosch Tries
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Folgen eines türkischen Drohnenangriffs auf ein Auto im syrischen Al-Hasakeh
Die Folgen eines türkischen Drohnenangriffs auf ein Auto im syrischen Al-Hasakeh

Es ist der 18. April 2024, ein ruhiger Donnerstagabend in der nordsyrischen Region Kobanê. Die kurdische Frauenaktivistin Halime Mihemed Osman ist mit ihrem Mann Elî Mistefa Osman im Auto auf dem Weg nach Hause. 20 Minuten östlich des Stadtzentrums von Kobanê endet die Fahrt abrupt. Eine Rakete trifft das Auto, es geht sofort in Flammen auf. Ihr Mann kann sich befreien und seine Ehefrau aus dem brennenden Wrack retten. Wie durch ein Wunder überlebt das Ehepaar und wird schwerverletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Der Anschlag ist der 93. Drohnenangriff der türkischen Armee seit Anfang diesen Jahres auf die selbstverwaltete multiethnische Region im Norden Syriens – besser bekannt als Rojava.

Doch warum wurde ausgerechnet das Auto des kurdischen Ehepaares zum Ziel einer türkischen Kampfdrohne? Halime Mihemed Osman war Sprecherin der Frauenorganisation »Sara« in der Stadt Kobanê. Die Organisation setzt sich für die Rechte von Frauen ein und kämpft aktiv gegen häusliche Gewalt. Dabei ist Osman nicht die erste Frauenrechtlerin, die ins Visier einer türkischen Drohne gerät. Nur wenige Kilometer vom Ort des Bombardements entfernt setzte die türkische Luftwaffe am 23. Juni 2020 zum ersten Mal eine bewaffnete Drohne gegen zivile Aktivistinnen ein. Damals wurden in Helînce die bekannte Frauenaktivistin Zehra Berkel und zwei weitere Frauen getötet. Die 1987 geborene Zehra Berkel war Vorstandsmitglied der Frauendachorganisation Kongreya Star und seit 2013 in zahlreichen Selbstverwaltungsämtern aktiv, unter anderem als Ko-Bürgermeisterin von Kobanê.

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Der Angriff in dem kleinen Vorort Kobanês wurde zum Auftakt einer äußerst blutigen Kampagne der türkischen Armee. Zwischen dem Angriff auf Halime Mihemed Osman und Zehra Berkel erschütterten Hunderte weitere Angriffe türkischer Kampfdrohnen die selbstverwalteten Gebiete. Laut dem Rojava Information Center gab es allein im Jahr 2022 mindestens 128 Drohnenangriffe mit 87 Toten und 151 Verletzten. Für das vergangene Jahr dokumentierte das Informationszentrum sogar 198 Angriffe mit 105 Toten und 123 Verletzten. Auch in diesem Jahr scheint die Tendenz weiter steigend.

Gezielte Tötung von Schlüsselfiguren

Wer sich näher mit dem türkischen Luftkrieg in Nord- und Ostsyrien befasst, wird schnell feststellen, dass es sich bei den Angriffen auf zivile Ziele nur schwerlich um Versehen handeln kann. Die Präzisionsschläge gegen Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Kultur sind Teil der türkischen Kriegsstrategie im Norden Syriens. Auch wenn das türkische Verteidigungsministerium nur in den wenigsten Fällen die Verantwortung für die völkerrechtswidrigen Angriffe übernimmt, lassen sich die meisten Schläge anhand der verwendeten Munition doch eindeutig der Türkei zuordnen.

Außer der gezielten Tötung von Schlüsselfiguren aus Gesellschaft und Verwaltung setzt die türkische Regierung seit Herbst 2023 alles daran, der einfachen Bevölkerung im nordsyrischen Grenzgebiet das Leben zu erschweren. In drei Angriffswellen im Oktober, Dezember 2023 und Januar 2024 wurden die Gas- und Stromversorgung, Fabriken und Lagerstätten sowie Krankenhäuser beschädigt und teilweise vollständig zerstört. Auch hierbei handelt es sich keineswegs um Kollateralschäden. Der türkische Außenminister Hakan Fidan hat sich öffentlich zu Angriffen auf die zivile Infrastruktur der Region bekannt. Es gehe darum, »die Finanzquellen des Terrorismus« auszutrocknen, so Fidan.

Lokale und internationale Beobachter sowie NGOs haben wiederholt auf die verheerenden humanitären Folgen der Angriffe aufmerksam gemacht. Nach einer Einschätzung des Zentrums der Europäischen Union für die Koordinierung von Notfallmaßnahmen (ERCC) vom Januar dieses Jahres sind in Folge der türkischen Angriffe über eine Million Menschen in insgesamt elf Städten und 2750 Dörfern sowie 1900 Schulen von der Stromversorgung abgeschnitten worden.

»Vorsätzliche Angriffe auf die zivile Infrastruktur sind ein Kriegsverbrechen«, warnte Human Rights Watch im Hinblick auf die gezielten Schläge der türkischen Streitkräfte. Auch die UN-Sonderkommission für Syrien sowie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages teilen diese Einschätzung. Politische oder juristische Konsequenzen musste der türkische Präsident Erdoğan bislang nicht befürchten. Dabei sind türkische Kampfdrohnen schon lange nicht mehr nur im Himmel über Syrien oder dem Irak im Einsatz, sondern zu einem regelrechten Exportschlager geworden. Die Auftragsbücher der führenden türkischen Drohnenhersteller Baykar und TAI sind voll. Denn egal ob im Krieg in Osteuropa, wo die türkische Drohne Bayraktar TB2 auf Seiten der ukrainischen Streitkräfte zum Einsatz kommt, im Kaukasus oder auf dem afrikanischen Kontinent – der Export türkischer Kampfdrohnen boomt. So erklärte im Dezember 2023 der Geschäftsführer der Firma Baykar, Selçuk Bayraktar, der gleichzeitig Schwiegersohn des türkischen Präsidenten ist, dass die hauseigenen Drohnen schon an 33 Staaten verkauft worden seien.

Was der türkische Massenexport des Drohnenkrieges bedeutet, zeigt ein jüngst veröffentlichter Bericht von Amnesty International (AI). Laut der Menschenrechtsorganisation soll ein Drohnenangriff auf einen Bauernhof in der Nähe des Dorfes Bagdad in Somalia das Leben von 23 Zivilisten, darunter 14 Kinder, gefordert haben. Dabei handelte um einen sogenannten »Double Tap«-Angriff: Zu Hilfe eilende Dorfbewohner, welche die Verletzten des ersten Angriffs bergen wollten, wurden durch einen zweiten Schlag getötet. Amnesty International veröffentlichte Fotos der Fragmente einer türkischen MAM-L Gleitbombe, die mutmaßlich durch eine TB2 Drohne ins Ziel geflogen wurde. Die Türkei hat sich seit den 1990er Jahren an mehreren Interventionen in Somalia beteiligt und unterhält seit 2017 einen Militärstützpunkt in der Hauptstadt Mogadischu. Spätestens seit 2022 greifen die türkischen Streitkräfte selbst aktiv aufseiten der somalischen Regierung mit Drohnenschlägen in den Kampf gegen die islamistische Al-Schabab-Miliz ein.

Einsatz in Afrika

Auch wenn laut Amnesty feststeht, dass der fatale Angriff mit türkischen Drohnen und der dazugehörigen Munition geflogen wurde, ist nicht klar, ob es somalische oder türkische Soldaten waren, die den Abschussknopf bedienten. Für die Modelle Bayraktar TB2, Aksungur und Anka-S wurden mit 15 afrikanischen Staaten Lieferverträge geschlossen und die Drohnen zum Teil bereits geliefert. Somalia befindet sich bis dato zumindest offiziell nicht unter den Empfängern. Gegenüber den Vereinten Nationen, die im Jahr 2022 untersuchen ließen, ob die Türkei gegen das Waffenembargo in Somalia verstoßen hat, erklärten türkische Verantwortliche, dass man keine Drohnen ausgeliefert hätte, diese aber selbst »im Kampf gegen den Terrorismus in Somalia« einsetzen werde. Auch der damalige somalische Innenminister Ahmad Malin Fiqi erklärte, dass es türkische Kräfte seien, die die Drohnen steuerten, während die somalischen Streitkräfte lediglich die militärische Aufklärung leisteten.

Auch als das nigerianische Militär im vergangenen Dezember in dem Ort Kaduna mindestens 85 Zivilisten bei einem angeblich versehentlich fehlgeleiteten Luftschlag tötete, fiel der Verdacht auf türkische Drohnen. Erst kurz zuvor hatte Nigerias Regierung eine unbekannte Anzahl türkischer TB2 Drohnen erstanden. Zwar konnte nicht festgestellt werden, mit welchem Luftfahrzeug das Bombardement durchgeführt wurde, doch leistet der türkische Drohnenexport schon jetzt einen entscheidenden Beitrag zur weiteren Entgrenzung des Krieges und der rasant voranschreitenden Erosion des Völkerrechts.

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