Die Weltordnung soll in der Zeitenwende rentabel werden

Aufrüstung, Zölle, und Sanktionen kosten den Westen Tausende von Milliarden. Worin liegt der wirtschaftliche Ertrag des neuen Kalten Krieges?

»Sold« - schon verkauft: ein Leopard 2 Panzer auf der Rüstungsmesse IDEX (International Defense Exhibition and Conference) in Abu Dhabi
»Sold« - schon verkauft: ein Leopard 2 Panzer auf der Rüstungsmesse IDEX (International Defense Exhibition and Conference) in Abu Dhabi

Ist die Zeitenwende ein gutes Geschäft für den Westen? Aus ökonomischer Sicht scheinen sich die Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriff sowie der neue Kalte Krieg gegen China nicht zu rentieren. Die USA und Europa müssen Hunderte von Milliarden an zusätzlichen Rüstungsausgaben stemmen, Energie hat sich verteuert, die Sicherung strategischer Lieferketten bringt massive Kostenerhöhungen, Investitions- und Exportbeschränkungen drücken die Profite der Konzerne. Doch all dieser Aufwand sei nötig, so heißt es aus Washington und Brüssel, um die globale Geltung des Rechts gegen autokratische Regime zu verteidigen. Das klingt uneigennützig – und ist auch nicht ganz falsch. Denn genau in der Stärkung der »regelbasierten Weltordnung« liegt für den Westen der ökonomische Nutzen der Zeitenwende.

Die Kosten

»Unsere Welt durchlebt ein Zeitalter von Konflikten und Konfrontationen, von Fragmentierung und Furcht«, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang des Jahres auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. »Ohne Zweifel sind wir mit dem größten Risiko für die Weltordnung in der Nachkriegsgeschichte konfrontiert.« Die USA und die EU-Staaten – der »Westen« – sehen sich vor allem an zwei Fronten herausgefordert: bei der Unterstützung der Ukraine gegen die russische Invasion und bei der Einhegung Chinas, das inzwischen als »systemischer Rivale« gilt. Gerade im politisch linken Lager wird bei Kriegen und Konflikten schnell an Profite gedacht. Zunächst einmal aber verschlingen beide Kämpfe des Westens enorme Summen.

Das fängt bei der Unterstützung der Ukraine an. Insgesamt haben europäische Geber dem Land bislang Hilfen von rund 90 Milliarden Euro zugewiesen, im Falle der USA sind es knapp 70 Milliarden, wobei der US-Kongress gerade ein weiteres Multimilliarden-Dollar-Paket genehmigt hat. Doch das sind eher geringe Summen verglichen mit den Kosten, die insbesondere Europa für die ökonomische Abkopplung von Russland tragen muss. Europas Direktinvestitionen in Russland, die 2021 noch bei 250 Milliarden Euro lagen, sind geschrumpft und gefährdet. Einnahmen aus dem Export nach Russland sind um über 50 Milliarden Euro pro Jahr eingebrochen. Vor allem aber hat der Ausfall russischer Gaslieferungen die Energierechnung sprunghaft erhöht, was in der EU die Inflationsrate in die Höhe und das Wirtschaftswachstum nach unten getrieben hat. Ein Prozentpunkt weniger Wachstum bedeutet für die EU einen Verlust von rund 170 Milliarden Euro.

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Weit höhere volkswirtschaftliche Kosten verursacht der Versuch einer polit-ökonomischen Einhegung Chinas, der – je nach Berechnung – größten oder zweitgrößten Wirtschaft der Welt. Von Chinas Aufschwung hat der Westen in den vergangenen Jahrzehnten massiv profitiert: Die Volksrepublik lieferte billige Waren, entwickelte sich zu einem lukrativen Exportmarkt für den Westen, dessen Konzerne Hunderte von Milliarden in China investierten, um vom dortigen Aufschwung zu partizipieren. Chinas Wachstum zog Dutzende von anderen Schwellenländern mit, von deren Wachstum die Industriestaaten ebenfalls profitierten. Dieser liberalisierte Weltmarkt mit seinen weltumspannenden Lieferketten, an denen die multinationalen Konzerne des Westens gut verdienten, wird nun Stück für Stück politisch eingeschränkt. »Die liberale globale Ordnung fällt langsam auseinander«, so das britische Magazin »Economist«.

Dabei gerät der Wunsch der Politik, China zu bremsen, in Konflikt mit dem Streben nach Profit und Wachstum. So kämpft in den USA eine Investorengruppe rund um den Vermögensverwalter Blackstone gegen ein Gesetz des Bundesstaates Florida, das chinesische Investitionen in die lokale Immobilienbranche verbietet. Die großen US-Computerchiphersteller beschweren sich über die Einschränkungen beim Export moderner Chips nach China, mussten sich von der US-Wirtschaftsministerin allerdings sagen lassen: »So ist das Leben. Der Schutz unserer nationalen Sicherheit ist wichtiger als kurzfristige Umsätze.« Auch in Deutschland werden die Unternehmen aufgefordert, ihre Geschäftsbeziehungen zu China zu überdenken, was bei diesen auf wenig Gegenliebe stößt. Denn Chinas Industrie liefert gute und günstige Vorprodukte, die deutsche Unternehmen für ihre Wettbewerbsfähigkeit brauchen. Doch der Industrieverband BDI fordert von ihnen nun ein Umdenken: »Die sicherheitspolitische Lage lässt eine rein betriebswirtschaftliche Betrachtung zentraler Größen in der unternehmerischen Beschaffung nicht mehr zu.«

Ebenfalls viel Geld kosten Zölle, mit denen der Westen seine heimischen Industrien vor China schützen und China gleichzeitig schaden will. Denn die Einfuhrzölle erhöhen die Preise für die heimischen Konsumenten und Unternehmen. Laut US-Ökonomin Mary E. Lovely kosteten allein die von US-Präsident Donald Trump eingeführten Zölle die US-Verbraucher und -Unternehmen 180 Milliarden Dollar. Doch die neoliberalen Zeiten von maximalem Profit und minimalen Kosten scheinen vorbei zu sein. Auch die »EU-Handelspolitik darf nicht mehr allein bei potenziellen Wertschöpfungsvorteilen ansetzen«, so der BDI.

Teuer ist auch der Versuch der USA und Europas, ökonomische Abhängigkeiten zu mindern, indem alte und neue Industrien auf ihren Territorien angesiedelt werden, etwa für die Batterie- oder Computerchip-Fertigung. »Industriepolitik basiert zumeist auf kostspieligen Subventionen oder Steuervergünstigungen, die schädlich für die Produktivität sein können«, mahnt der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem jüngsten Weltwirtschaftsausblick. Zwar werden per Subventionen Geschäftsgelegenheiten für lokale Unternehmen in der EU und den USA geschaffen. Unklar ist aber, ob sich das gesamtwirtschaftlich mehr lohnt als der Bezug billiger Chips und Batterien aus dem Ausland. Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hat Zweifel: »Die Interventionen in den USA als auch in Europa sind weniger industriepolitisch motiviert, sondern nehmen bewusst Effizienzverluste als sicherheitspolitische Versicherungsprämie in Kauf.«

Diese »Effizienzverluste« sind gigantisch, laut Schätzungen des IWF könnte die vom Westen forcierte »Fragmentierung« des Weltmarkts die globale Wirtschaftsleistung längerfristig um sieben Prozent drücken, das summiere sich auf 7,4 Billionen Dollar. Dazu kämen die Kosten anderer Beschränkungen wie der technologischen Entkopplung von China oder der Unterbrechung von Investitionsströmen. Ein Krieg mit China um Taiwan etwa könnte laut Finanzagentur Bloomberg zehn Billionen Dollar kosten. Doch scheint man in den USA und Europa bereit zu sein, diese Preise gegebenenfalls zu zahlen. Schließlich ist »der Grundgedanke geoökonomischer Maßnahmen nicht die Erzielung beidseitiger wirtschaftlicher Vorteile, sondern das Streben nach geostrategischen Vorteilen«, erklärt Lucia Quaglia, Politologin an der Universität Bologna. Im Klartext: Auch im Wirtschaftskrieg liegt der Ertrag in der Schädigung des Gegners.

Und schließlich addieren sich zu den Kosten der Zeitenwende noch die dauerhaft höheren Ausgaben für Rüstung. Die Nato-Staaten haben sich verpflichtet, ihre Militärbudgets auf mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung zu erhöhen. Vielfach wird damit gerechnet, dass eher Niveaus von vier Prozent erreicht werden müssen, so wie zu Zeiten des Kalten Kriegs gegen die Sowjetunion. Jennifer Welch vom Finanzdienst Bloomberg Economics errechnet, dass in diesem Fall auf die G7-Staaten mehr als zehn Billionen Dollar an zusätzlichen Militärausgaben in der nächsten Dekade zukommen. Das bedeutet Steuererhöhungen, Einsparungen oder zusätzliche Schulden, also zusätzliche Zinsausgaben, die in den USA bereits heute höher liegen als die Ausgaben für das Militär.

Die Erträge

Soweit zu den gigantischen Kosten, die die Eindämmung Russlands und Chinas dem Westen verursacht. Und was sind die Erträge? Gemessen am Aufwand erscheinen Rüstungsexporte als vernachlässigenswert. So hat zum Beispiel Deutschland im vergangenen Jahr Militärgüter über 12,2 Milliarden Euro ausgeführt. Für die Produzenten von Panzern und Granaten ist das ein gutes Geschäft. Insgesamt aber beträgt der Rüstungsexport nur ein Zwanzigstel der deutschen Ausfuhren von Kraftwagen oder ein Fünftel der Ausfuhren von Nahrungsmitteln. Sogar der Müllexport bringt Deutschland mehr ein als der von Waffen.

Zwar können höhere staatliche Investitionen in die Rüstungsindustrie dazu führen, dass lokale oder regionale Wirtschaftsräume gestärkt werden, weil die Rüstungsproduktion weitere Zulieferer beschäftigt. Insgesamt aber bleiben die volkswirtschaftlichen Erträge fragwürdig, auch weil die staatlichen Rüstungsgelder in anderen Bereichen – Technologie, Bildung – oftmals produktiver eingesetzt wären. »Es gibt eine umfangreiche Literatur über die wirtschaftlichen Folgen von Militärausgaben«, bilanziert der Ökonom Muhammad Azam in einer Studie über Rüstung und Wachstum. »Es hat sich jedoch kein Konsens darüber herausgebildet, ob Militärausgaben für das Wirtschaftswachstum vorteilhaft oder nachteilig sind.« Hinweise auf einen positiven Einfluss seien dürftig. Fragwürdig sind auch Hoffnungen, die Ökonomien des Westens könnten per Saldo – also nach Abzug aller Kosten – von einem Wiederaufbau der Ukraine profitieren, auch weil dieser Aufbau zum Großteil vom Westen bezahlt werden wird.

Ein bedeutender ökonomischer Ertrag der Zeitenwende dürfte sich dagegen ergeben, wenn es den USA gelingt, mit China tatsächlich einen mächtigen Konkurrenten um die Märkte und Technologien der Zukunft auszuschalten oder zumindest zurückzustufen, wodurch westlichen Konzernen mehr Marktanteile blieben. Schließlich »dominiert China die globale Produktion von Solarpaneelen, Batterien und Windturbinen, so dass die Politik in den USA fürchtet, das globale Rennen um grüne Technologien zu verlieren, sowohl weltweit als auch in ihren Hinterhöfen«, schreibt der Economist. Die Klage Washingtons und Brüssels über Chinas »unfaire« Förderung der eigenen Industrie verweist allerdings auf ein übergeordnetes Problem, das zu lösen sie sich vorgenommen haben: der Zerfall ihrer Weltordnung. »Unsere Unternehmen agieren in einem Umfeld, in dem internationale Regeln zunehmend ignoriert werden«, so Ursula von der Leyen. Und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte vor einigen Wochen, die »Haltbarkeit eines Regel- und Wertegefüges« sei in Gefahr und damit die gesamte »europäische Zivilisation«.

Dem Westen geht es bei dieser Klage nicht allein um Konkurrenzvorteile auf einzelnen Märkten. Es geht ihm um die Kontrolle des Marktes selbst, also um seine Stellung als Ordnungsmacht, die die Regeln setzt und damit entscheidet, was Recht ist und was nicht – welche Subventionen erlaubt sind, welche Güter gehandelt werden dürfen, wo investiert werden darf und wo nicht. Bei der Darstellung des Problems, vor das sich die US-Regierung gestellt sieht, wählte US-Sicherheitsberater Jake Sullivan vor einem Jahr nicht zufällig einen Ausgangspunkt, zu dem die Dominanz der Vereinigten Staaten unangefochten war: »Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Welt unter der Führung der USA eine neue internationale Wirtschaftsordnung aufgebaut. Doch in den vergangenen Jahrzehnten sind Risse in diesem Fundament aufgetaucht.« Ähnlich sieht man das in Europa. Der Munich Security Report zitierte Macron bereits 2020, lange vor der russischen Invasion der Ukraine, mit der Aussage: »Wir waren an eine internationale Ordnung gewöhnt, die auf der westlichen Hegemonie seit dem 18. Jahrhundert beruht hatte. Die Dinge ändern sich.«

Die Ordnung

Die westliche Hegemonie war über Jahrzehnte die Voraussetzung dafür, dass die USA und Europa die Regeln des Weltgeschäfts bestimmten; diese Regeln wiederum sicherten im Gegenzug den ökonomischen Erfolg des Westens und damit die materielle Basis seiner Hegemonie. Ihr ökonomischer Ertrag entstand also nicht aus einer Eroberung und kolonialen Beherrschung fremder Länder; sondern bestand im Aufbau eines globalen Systems, das die ganze Welt zur Wachstumsquelle der Unternehmen des Westens machte. »Statt formeller Imperien und territorialer Exklusivität«, so schrieb kürzlich der griechische Ökonom Costas Lapavitsas im »nd«, »benötigen die multinationalen Konzerne erstens einen institutionellen Rahmen, der es ihnen ermöglicht, den Weltmarkt auszudehnen und zu beherrschen, und zweitens eine sichere Form von Weltgeld, um Verpflichtungen zu begleichen und die Wertproduktion global zu erhalten«.

Gerade im Bezug auf das »Weltgeld« lässt sich erkennen, das der Weltmarkt noch immer der des Westens ist. Zwar haben die USA, Europa und Japan an Marktanteilen verloren, als Produktionsstandorte sind sie insbesondere gegenüber China zurückgefallen. Als Finanzmächte aber bleiben sie beherrschend. Sie sind die Heimat der Weltgelder Dollar und Euro, auf die 80 Prozent der internationalen Kredite und Bankguthaben lauten. In Nordamerika und Westeuropa liegen die Zentren des globalen Kapitalmarktes, zu denen das Geld der Welt fließt und von wo aus global investiert wird. »Die USA sind quasi der Risikokapitalgeber der ganzen Welt und wichtigster globaler Kreditgeber«, erklärt eine neue Studie der Paris School of Economics. Dieses »exorbitante Privileg« der USA sei immer weiter gewachsen und zu einem Privileg der reichen Länder geworden – also vor allem der USA plus Europa.

»Diese reichsten Länder agieren als Banker der Welt«, so die Wissenschaftler. »Sie ziehen Kapital an, zahlen ihren Gläubigern dafür geringe Zinsen und investieren diese Zuflüsse in profitablere Geschäfte weltweit.« Dieses Privileg sei äußerst lukrativ: Die Paris School of Economics schätzt den Netto-Ertrag, der durch die Transfers der armen zu den reichsten Ländern entsteht, auf zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. Zu den reichsten Ländern gehörten die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Kanada, aber auch Australien, Belgien, Norwegen, die Schweiz und Israel. »Die zentrale Position dieser Länder im internationalen Geld- und Finanzsystem erlaubt es ihnen, als Vermittler zu fungieren«, erklären die Wissenschaftler. »Diese Rolle wiederum stärkt ihr Privileg, da sie billig an Kapital kommen und es in produktive Investments lenken können. Dieser Zirkel wiederum verewigt ihre Dominanz und stärkt ihre Position als Schlüsselmächte der Wirtschaftswelt.« Zudem gewährleistet diese finanzielle Dominanz, dass die Finanzmärkte den Führungsmächten des Westens jeden Kredit gewähren, den sie für ihre Aufrüstung brauchen.

Diese Weltordnung hat nicht nur gigantische Reichtümer im Westen geschaffen, sondern auch den Aufstieg Chinas ermöglicht, das nun vor einem Widerspruch steht: Zum einen ist sein ökonomischer Erfolg ein Produkt der US-dominierten Weltordnung, was man insbesondere daran erkennt, dass der Billionenstaatsschatz der chinesischen Zentralbank vor allem aus Dollar und Euro besteht. Zum anderen aber wächst China aus dieser Ordnung heraus. Die EU und die USA sehen die Volksrepublik nicht länger nur als Konkurrenten, sondern als »systemischen Rivalen«, womit sie anerkennen, dass China ihnen auf Augenhöhe begegnet. Schließlich will ein Rivale das Gleiche wie man selbst.

Damit sieht insbesondere Washington die gesamte Weltordnung bedroht – denn als Schöpfer und Garant dieser Ordnung definieren die USA jeden Angriff auf die Ordnung als Angriff auf die eigene Vorherrschaft. Die Maßnahmen, die die US-Regierung nun zur Sicherung ihrer Vorherrschaft ergreift, bringen diese Ordnung tatsächlich in Gefahr. »Die Ordnung, die seit dem Zweiten Weltkrieg die Weltwirtschaft regiert hat, wird ausgehöhlt, heute steht sie vor dem Zusammenbruch«, schreibt der Economist und zählt die Risse im Fundament auf: Die Zahl der internationalen Wirtschaftssanktionen hat sich seit den 1990ern vervierfacht, die USA sanktionieren inzwischen sogar Drittländer, die sich ihren Sanktionen gegen Russland und China nicht anschließen. China und die USA liefern sich einen »Subventionskrieg« zur Besetzung von Zukunftsmärkten, in den immer mehr Länder einsteigen. Die globalen Finanzflüsse nehmen ab. Die Welthandelsorganisation WTO kann aufgrund eines US-Boykotts keine Streitfragen mehr entscheiden, »der IWF ist in einer Identitätskrise, der UN-Sicherheitsrat ist gelähmt – eine erneute Präsidentschaft Donald Trumps oder die Furcht vor chinesischen Billigimporten könnte die Normen und Institutionen weiter erschüttern«, warnt der Economist.

Vorbei sind damit die Zeiten des Neoliberalismus, von dem immer deutlicher wird, dass es sich bei ihm weniger um ein theoretisches oder praktisches Konzept handelte, sondern bloß um eine bestimmte Machtkonstellation auf dem Weltmarkt. Es war die Zeit, in der der Westen gesiegt hatte und seine Konzerne in der Lage waren, den gesamten Globus zu ihrem Vorteil zu nutzen – ihnen musste nur die Bahn frei gemacht werden: Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung, Globalisierung waren die Stichworte. Die USA und ihre Verbündeten konnten aufgrund ihrer Dominanz davon ausgehen, dass ein freier Weltmarkt wie automatisch ihnen zugutekommen würde.

Heute dagegen machen sie sich daran, den Weltmarkt neu zu regulieren und ihre Stellung als globale Ordnungsmächte zu festigen, also als Mächte, die das Weltgeschäft nicht nur bestimmen, sondern auch von ihm nachhaltig profitieren. Dieser neue Kalte Krieg unterscheidet sich grundlegend vom alten gegen die Sowjetunion: »Im Gegensatz zum ersten Kalten Krieg, als die Großmächte versuchten, ihr Territorium in Blöcke einzugliedern, konkurrieren die USA und China derzeit auf globaler Ebene um die zentrale Stellung in vier miteinander verknüpften Netzwerken, von denen sie annehmen, dass sie die Hegemonie im 21. Jahrhundert untermauern werden: Infrastruktur (z.B. Logistik und Energie), Digitaltechnik, Produktion und Finanzen«, schreibt eine Gruppe internationaler Wissenschaftler, die Mitglieder des Second Cold War Observatory sind.

In der Ukraine geht es dem Westen daher nicht nur um die Einbindung des Landes in das eigene System oder nur um das Zurückschlagen Russlands, sondern ums Ganze. »Wenn die Ukraine verliert, werden unsere Feinde die Weltordnung bestimmen«, warnte George Robertson, ehemaliger Nato-Generalsekretär. Vor diesem Hintergrund sieht Kathryn Levantovscaia von der US-Denkfabrik Atlantic Council in der Hilfe für die Ukraine ein »strategisches Investment«: Der Krieg biete ein »realistisches Testfeld für US-Waffensysteme und ihre Wirkung«, und generiere dadurch Erkenntnisse, die »auf anderem Wege nicht zu gewinnen wären«. Zudem, so Levantovscaia, habe der Krieg Russland erheblich geschwächt, und zwar zu einem günstigen Preis: »Die US-Hilfe für die Ukraine beläuft sich auf etwa fünf Prozent des Jahresbudgets des Verteidigungsministeriums, was für die Eindämmung und Erschöpfung eines der größten Widersacher der Vereinigten Staaten ein gutes Geschäft ist. Eine russische Niederlage in der Ukraine wäre daher ein doppelter Schlag – sie würde die Abschreckung gegenüber China stärken.«

Ein neues Geschäftsmodell

Insofern ist es korrekt, wenn Politiker*innen in Europa und den USA sagen, es gehe ihnen um die »regelbasierte Weltordnung«. Denn die Ordnung, die derzeit noch herrscht und die bedroht ist, ist die der USA, von ihnen geschaffen und aufrechterhalten und von ihrem Willen abhängig – daher die allseitigen Warnungen vor einer erneuten Präsidentschaft Donald Trumps. Denn die Verbündeten der USA bleiben in ihrem Erfolgsweg abhängig von den Vereinigten Staaten, die das System erhalten, von dem auch die europäische Wirtschaft lebt. Der Bundesverband der deutschen Industrie drückt es so aus: »Der Schutz des Völkerrechts gegenüber Russland sichert gleichzeitig die Grundlagen für internationale Wirtschaftsbeziehungen und ist daher prioritär für die Industrie in Europa.«

Ob sich der ökonomische Ertrag der Neuordnung der Welt für die USA und ihre Verbündeten auch einstellen wird, ist allerdings offen, selbst wenn ihr Vorgehen gegen China und Russland erfolgreich sein sollte. »Keine Frage, für die Herrschenden aller Länder mit Ausnahme jener, die von den USA zu Schurkenstaaten erklärt wurden, war die neoliberale Globalisierung ein profitables Geschäftsmodell«, schreibt der Ökonom Ingo Schmidt in der Monatszeitung »ak«. Dass dieses Geschäftsmodell »schließlich auch in seinen Kernländern zu schweren Wirtschaftskrisen geführt hat, heißt nicht, dass die seither erfolgte Militarisierung der Außenpolitik ein besseres Geschäftsmodell für das Kapital als Ganzes darstellt – die Rüstungsindustrie ausgenommen«.

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