Chile: Kein Dach über dem Kopf

Besetzungen in Chile unter wachsendem Räumungsdruck

  • Malte Seiwerth, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 4 Min.
Mitte Mai rückte die chilenische Polizei an, um die besetzte Siedlung »Toma 17 de Mayo« am Rand der Hauptstadt Santiago zu räumen.
Mitte Mai rückte die chilenische Polizei an, um die besetzte Siedlung »Toma 17 de Mayo« am Rand der Hauptstadt Santiago zu räumen.

Am Horizont sind schwarze Säulen aus Rauch zu erkennen, im Vordergrund Bereitschaftspolizei und Wasserwerfer. Am 16. Mai räumte die chilenische Polizei, Carabineros, die besetzte Siedlung »Toma 17 de Mayo« am Rand von Santiago. Nach anfänglichem Widerstand ergaben sich die Bewohner*innen ihrem Schicksal und brachten ihre Habseligkeiten auf die Straße. Die Bewohnerin Soledad Terán erzählt: »Sie kamen am Morgen mit Tränengas und Wasserwerfern, es war schrecklich, wie sie uns hier angriffen haben.« Die 63-jährige Terán sitzt wütend vor ihrem Haus und erzählt. Vor fünf Jahren, am 17. Mai 2019, wurde das brachliegende Grundstück am Rand von Santiago besetzt. Sie kam wenige Wochen danach hinzu und baute dort ihr Haus. Etwa 150 Haushalte lebten hier. Strom erhielten sie über angezapfte Leitungen, Wasser durch Tanklastwagen, die regelmäßig Kanister auffüllten.

Maria Guzmán, die Eigentümerin des Grundstücks und eines anliegenden Industriegebiets, lehnte von Beginn an das Angebot der Bewohner*innen ab, das Grundstück an sie zu verkaufen und verklagte diese vor Gericht. Das Verfahren ging bis an die höchste Instanz. Das Urteil fiel im Oktober 2023 positiv für Guzmán aus. Eine Räumung musste daher bis Ende Mai 2024 vollzogen werden.

Wohnungsnot in Chile

In Chile herrscht Wohnungsnot, laut dem Wohnbauministerium fehlen im ganzen Land über 550 000 Wohneinheiten. Eine Jahr für Jahr steigende Ziffer. Während die Regierung im Jahr 2023 ein Notfallprogramm zum Bau von 260 000 Wohneinheiten bis Anfang 2026 aufgezogen hat, leben laut der Nichtregierungsorganisation »Techo« (Dach) über 110 000 Haushalte in irregulären Siedlungen wie der geräumten »Toma 17 de Mayo«, die höchste Zahl seit Beginn der Zählung durch »Techo« im Jahr 2001.

»Die Räumung der ›Toma 17 de Mayo‹ ist ein Präzedenzfall im Kampf um das Recht auf Wohnraum«, meint Nicolás Daccarett. Er gehört der Genossenschaft Kincha an, die die Bewohner*innen in ihrer Arbeit unterstützten. Aufgrund fehlendem Wohnraum befürwortet Kincha, dass brachliegende urbane Flächen für Wohnraum genützt werden können. »Unsere Forderung war, dass die Regierung das Grundstück enteignet und den Bewohner*innen übergibt«, erklärt Daccarett.

Langes Warten auf Sozialwohungen

Zusammen mit den Anwohner*innen hatten sie über 50 Sitzungen mit Vertreter*innen des Wohnbauministeriums, die zu keinem Ergebnis kamen. Für Daccarett kein Zufall, »es geht ihnen darum, die Forderungen der Bewegung ins Nichts laufen zu lassen.« Dazu gehöre laut ihm einerseits die Räumung von Besetzungen, um in der Zukunft weitere zu verhindern, mit gleichzeitiger Aussicht auf eine Sozialwohnung über Wartelisten. Viele Anwärter*innen warten allerdings bis zu zehn Jahre auf solche Wohnungen.

Die Not wird durch extrem steigende Mietpreise weit über den Lohnzuwächsen verschärft. Laut Zahlen des Wohnungsbauministeriums haben sich seit 2010 diese auf nationaler Ebene mehr als verdoppelt, während die Löhne nur um 30 Prozent gestiegen sind. Eine normale Mietwohnung mit 50 Quadratmeter kostet in Santiago derzeit mindestens umgerechnet 400 Euro im Monat, während der Mindestlohn bei 500 Euro im Monat liegt.

Präsident Boric zeigt sich solidarisch mit Landbesetzern

Die seit März 2022 amtierende linksreformistische Regierungskoalition unter Präsident Gabriel Boric zeigte sich während der Wahlkampagne solidarisch mit der Bewegung der Landbesetzer*innen und erklärte, keine Räumung zu vollziehen, sofern die Bewohner*innen keine Bleibe danach hätten. Im Falle der »Toma 17 de Mayo« versprach die Regierung am Tag der Räumung eine Mietsubvention von umgerechnet 330 Euro über zwölf Monate. Die ehemaligen Bewohner*innen bezeichnen dies allerdings als unzureichend und meinen, dass sie bislang keine Zahlung erhalten haben.

Aufgrund der sich ausbreitenden Landbesetzungen forcierte die chilenische Kammer der Bauunternehmer seit mehreren Jahren eine Neuregelung des Gesetzes zur Räumung von Besetzungen. Das finale Gesetz wurde im August 2023 mit Stimmen von Parlamentarier*innen der Regierung und Opposition angenommen und erlaubt schnellere Räumungen sowie Haftstrafen für Besetzer*innen. Für Daccaret steht fest: »Die Regierung hat sich auf die Seite der Eigentümer gestellt.«

Eine Lösung für Daccaret wäre die verstärkte Förderung von Baugenossenschaften. Mit mehreren Bewohner*innen der »Toma 17 de Mayo« haben sie daher eine gegründet und sind nun auf der Suche nach einem passenden Grundstück. Doch er meint, »das Problem ist, dass viele Preise schlichtweg zu hoch sind und die entsprechenden staatlichen Subventionen viel zu gering.« Die ehemalige Bewohnerin Terán kommt erst einmal bei Verwandten unter – andere werden die kommenden Wochen unter Zeltplanen verbringen.

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