Social Washing: Gratismentalität im Kulturbetrieb

Olivier David über einen Trend im Kulturbetrieb, der Menschen, die arm sind oder über Armut schreiben, für ihre Arbeit nicht bezahlt

Haben Sie schon einmal von dem Wort »Gratismentalität« gehört? Falls ja, dann lassen Sie mich raten: In Gesprächen über Sozialleistungen kommt immer irgendein rechter oder liberaler Troll um die Ecke. Und sobald die Sanktionen-Daumenschrauben beim Bürgergeld etwas gelockert werden sollen, wird die kleinste Forderung nach mehr Sozialleistungen mit einem Verweis auf das Leistungsprinzip weggeblafft. Hier diejenigen, die auch bei unbezahlten Überstunden nicht murren. Dort jene, die nichts tun wollen und dafür auch noch Geld fordern. Dabei ist längst klar: Nur 0,4 Prozent der Menschen im Bürgergeldbezug kommen ihrer Mitwirkungspflicht nicht nach. Gegen die hunderttausende sozialschmarotzende Reiche, die sich vor einer proportional fairen Steuerlast drücken, wird dieses Argument nicht geltend gemacht.

Neben dem erwartbaren Reichen-Bashing gibt es aber noch ein weiteres Feld, in dem sich eine Gratismentalität durchsetzt – und zwar im Kulturbetrieb. Wer, wie ich, zum Thema Armut und sozialer Klasse schreibt und dafür auf Podien eingeladen wird, den erreichen mit erschreckender Regelmäßigkeit Anfragen, kostenlos zu arbeiten.

Sinngemäß liest sich das so: »Hey XYZ, toll, dass es dich gibt. Wir sind über deine so wichtige und wertvolle Arbeit zum Thema Armut und Klassismus gestoßen und würden dich dafür gerne zu unserem Podium, unserer Lesung oder Veranstaltung einladen. Fahrtkosten zahlen wir natürlich.« Wer aus der politischen Arbeit kommt, mag sich vielleicht wundern, worüber sich hier aufgeregt wird. Auf der politischen Linken wird häufig umsonst oder für wenig Geld gearbeitet – denn wenn alle Linken erst warten würden, bis sie für ihre Arbeit einen fairen Einheitslohn bekämen, würde die gerechtere Gesellschaft noch einige Jahrhunderte auf sich warten lassen müssen.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Davon ist aber in den meisten Fällen nicht die Rede. Es ist die Rede von großen Kulturkaufhäusern, von Bühnen, die sich mit politischem Prestige schmücken, und von Fernsehsendern, die den x-ten Beitrag (mit problematischem Fokus) zum Thema Klasse drehen und dabei nicht die Zeit vergüten wollen, die man aufbringt. Wohlgemerkt: Arbeitszeit! Es ist das eine, auf eine (faire) Bezahlung zu verzichten, wenn man politisch hinter einer Sache steht, und das andere, wenn kapitalistische Konzerne aus dem Kunst- und Kulturbetrieb sich die Selbstausbeutung der Aktivist*innen zu eigen machen.

Erst neulich riet mir eine Person, ich solle, wenn ich auf Podien mit Armutsaktivist*innen sitze, immer fragen, ob sie denn ein Honorar bekämen. Menschen, die über Armut sprächen, seien oft die einzigen, die leer ausgingen, so die Warnung. Das ist die Gratismentalität, von der ich spreche.

Wenn Sender, Redakteur*innen oder Kurator*innen ihre knappen Veranstaltungs- und Produktionsbudgets auf dem Rücken der Marginalisierten einhalten; wenn einige Menschen bezahlt werden, die armutsbetroffene Person aber nicht– spätestens dann ist klar, dass es sich bei dem Projekt um Social Washing handelt. So wird versucht, sich als sozial interessiert darzustellen, während ihre Praktiken ausbeuterisch sind. Was wäre, wenn wir da nicht mehr mitmachen?!

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