EU-Wahlkampf: Bedrohte Lässigkeit

Wer wissen will, wie es um die Demokratie bestellt ist, sollte auf die Grünen schauen

Wirtschaftsminister Robert Habeck unterstützt die EU-Spitzenkandidatin Terry Reintke beim Wahlkampf in Kassel.
Wirtschaftsminister Robert Habeck unterstützt die EU-Spitzenkandidatin Terry Reintke beim Wahlkampf in Kassel.

Zwei Männer, ganz in Schwarz gekleidet, haben es doch geschafft. Plötzlich schreien sie markerschütternd aus dem Publikum, dass Palästina befreit werden solle. Im Nu sind die beiden vom Sicherheitspersonal überwältigt und werden abgeführt.

»Darauf habe ich schon gewartet«, zischt Robert Habeck am Montag auf der Bühne in Kassel. Für einen kurzen Moment lässt er sich seine Verärgerung über den Zwischenfall anmerken. Dann referiert er weiter – über die Errungenschaften der EU, warum es lohnt, für die Union einzustehen und zu kämpfen. Die EU sei die Antwort auf einen von Kriegen zerrütteten Kontinent gewesen und eine Friedensgeschichte.

Kaum einer im Publikum nimmt es ihm übel, dass er auf der Wahlkampfveranstaltung am Montag nicht weiter auf die beiden Störer eingeht. Habeck wendet sich vielmehr an seine Wähler, die in den Biergarten Ahoi am Ufer der Fulda zahlreich gekommen sind. Er spricht zu denen, die teilhaben und wählen dürfen, die in Frieden und Wohlstand leben. Dies alles solle erhalten werden, lautet seine Botschaft.

Europawahl 2024

Im Juni wird in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union über ein neues EU-Parlament abgestimmt. Dabei zeichnet sich ab, dass rechte Parteien an Einfluss gewinnen könnten. Was ist eine linke Antwort darauf? Und wie steht es um die Klimapolitik der EU? Welche Entwicklungen gibt es in Hinblick auf Sozialpolitik und was ist im Bereich der europäischen Asyl- und Migrationpolitik zu erwarten? Die anstehende Europawahl wird richtungsweisend. Auf unserer Themenseite fassen wir die Entwicklungen zusammen: dasnd.de/europawahl

Habeck ist Wirtschaftsminister und steckt die großen Linien ab, wie er Europa weiterentwickeln will – nämlich durch eine Transformation hin zu einem klimaneutralen Kontinent, wie es der Green Deal vorsieht. Er zieht eine Zwischenbilanz beim Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland und findet die Entwicklung vorbildlich. Er spricht davon, Europa mit einer gemeinsamen Außenpolitik »weltfähig« zu machen. Nur zusammen könnten die Mitgliedstaaten eine Schlagkraft entwickeln.

Störgeräusche kommen auch vom anderen Ufer, wo eine Handvoll Friedensaktivisten mit einem Lautsprecher immerfort daran appelliert, die deutschen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und speziell an die Ukraine einzustellen.

Die meisten Zuhörer im Biergarten haben dafür allenfalls ein müdes Lächeln übrig. Sie sorgt etwas anderes als ihr pazifistisches Gewissen. Sie sehen die eingeleitete klimapolitische Transformation in Bedrängnis. Terry Reintke, die Spitzenkandidatin im EU-Wahlkampf, befürchtet, dass die jüngsten Fortschritte beim Emissionshandel, bei der Landwirtschaft oder bei der Verkehrspolitik wieder rückgängig gemacht werden könnten. »Einen Roll-back müssen wir verhindern«, sagt sie im Hinblick auf den Zickzack-Kurs der Konservativen im EU-Parlament.

Um den grünen Einfluss zu sichern, brauche es eine hohe Wahlbeteiligung. Mut macht der Europapolitikerin der Regierungswechsel in Polen im Oktober: Nach der Parlamentswahl gelang es der Opposition, eine Mehrheit an der regierenden nationalchauvinistischen PiS vorbei zu bilden. »Die hohe Wahlbeteiligung brachte die Wende«, analysiert Reintke. 74 Prozent der Stimmberechtigten gingen an die Urnen. Auch Habeck glaubt, dass die Europawahl über die Mobilisierung entschieden wird. Mit Blick auf die extreme Rechte sagt er: »Diejenigen, die Europa kaputt machen wollen, sind schon mobilisiert.«

Zwei Wochen vor der Abstimmung ist die Situation gereizt. Der Wahlkampf wird von einer Vielzahl von Angriffen auf Politiker überschattet. Erst am Wochenende gab es eine Attacke auf die Grüne Landtagsabgeordnete Marie Kollenrott im niedersächsischen Göttingen. Ein 66-Jähriger schlug ihr mit Fäusten auf den Oberkörper und verletzte sie leicht.

Europa to go

Ein Podcast, der dich anlässlich der Europawahl 2024 ins »Herz« der EU mitnimmt. Begleite uns nach Brüssel und erfahre mehr über Institutionen wie das Europäische Parlament, was dort entschieden wird und warum dich das etwas angeht. Der Podcast ist eine Kooperation von »nd«, Europa.Blog und die-zukunft.eu. Alle Folgen auf dasnd.de/europa

Habeck spricht trotzdem von einer Leichtigkeit, die er sich wünscht – und die er auch bei den Feierlichkeiten anlässlich des 75. Jahrestages des Grundgesetzes am Wochenende in Berlin gespürt habe. Die Atmosphäre habe ihn an ein Zeltlager in Schweden erinnert. »Wo du morgens aufwachst, auf dem Kocher einen Kaffee aufsetzt und miteinander ins Gespräch kommst. Man braucht eine gewisse Lässigkeit«, meint er.

In Kassel haben sich die Grünen für ihren Wahlkampf einen idyllischen Ort ausgesucht, keinen Brennpunkt. Aber eine Bedrohung ist dennoch spürbar. Die Sicherheitsvorkehrungen sind immens. Am Einlass wird strenger als im Fußballstadion kontrolliert, Habeck ist als Minister stets von mehreren Personenschützern umgeben, überall wachen Polizisten.

Der Parteivorsitzende Omid Nouripour erinnert in seiner Rede daran, dass sich der Mord an Walter Lübcke (CDU) am kommenden Montag zum fünften Mal jährt. Der Kasseler Regierungspräsident hatte sich für Zuwanderung ausgesprochen und war deshalb von einem Neonazi erschossen worden. »Das darf sich nicht wiederholen!« Die Zuschauer klatschen lange und demonstrativ. Als wollten sie sich Mut zusprechen, in einer offenen Gesellschaft kann es schließlich immer zu Angriffen kommen.

Das beste Mittel gegen Fake-News und rechte Propaganda: Journalismus von links!

In einer Zeit, in der soziale Medien und Konzernmedien die Informationslandschaft dominieren, rechte Hassprediger und Fake-News versuchen Parallelrealitäten zu etablieren, wird unabhängiger und kritischer Journalismus immer wichtiger.

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

Unterstützen über:
  • PayPal