Heute Couture, morgen Fast Fashion, übermorgen Superfakes

Textile Texte (3): Ein kurzer Ritt durch die Geschichte zeigt, wie sich die Modeindustrie von heute herausgebildet hat

Lady Di hat mit ihrem »Revenge Dress« (Rachekleid) Geschichte geschrieben. Sie trug es am Abend, an dem im britischen Fernsehen ein Interview mit ihrem Noch-Ehemann Charles über dessen Untreue gesendet wurde.
Lady Di hat mit ihrem »Revenge Dress« (Rachekleid) Geschichte geschrieben. Sie trug es am Abend, an dem im britischen Fernsehen ein Interview mit ihrem Noch-Ehemann Charles über dessen Untreue gesendet wurde.

Das vergangene Jahrhundert war in modischer (und auch in jeglicher anderer) Hinsicht ein chaotisches und innovatives: Es war das Jahrhundert der Designer und der Massenproduktion. Erst wurde in Paris die Haute Couture vom britischen Schneider Charles Frederick Worth begründet, der seine Kreationen wie Kunstwerke signierte; dann etablierte sich die Idee vom Prêt-à-Porter – Kollektionen also, die nicht mehr nach Maß, sondern tragefertig und in großen Mengen hergestellt wurden. Gleich zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Korsett abgeschafft; Frauen begannen, kürzere, auch schwarze Kleider und gar Hosen zu tragen. Bei Männern ersetzte der Smoking den Frack, der, dem Korsett nicht unähnlich, heutzutage beinahe vergessen scheint.

Textile Texte

Mode und Verzweiflung: In diesem Sommer beschäftigt sich das nd-Feuilleton mit Hosen, Hemden, Hüten und allem, was sonst noch zum Style gehört.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die westliche Mode demokratischer und bequemer: Männer wie Frauen trugen T-Shirts, Jeans, Pullover und im Sommer gar Shorts; auch Turnschuhe wurden öffentlichkeitstauglich. Die Erfindung von Nylon und Polyester ermöglichte die Herstellung von Strumpfhosen und Sportbekleidung wie Leggings. Die Sexuelle Revolution normalisierte das Tragen von Bikinis, Miniröcken und Overknee-Stiefeln für Frauen, aber auch das Cross-Dressing ließ nicht lang auf sich warten. Durch Kino, Fernsehen, Fotografie und Magazine wurde Mode zu einem omnipräsenten Bestandteil der Gesellschaft. Wer kennt sie nicht, die legendären Kleider des vergangenen Jahrhunderts wie das »Naked Dress« von Marilyn Monroe oder das »Revenge Dress« von Lady Di? Die Mode ist nicht nur Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung, sie verleiht historischen Ereignissen eine stylische Hülle.

Das 21. Jahrhundert steht fashiontechnisch auf dem Scheideweg. Einerseits ist die Modeindustrie ständig in den Negativschlagzeilen: Verantwortlich für ganze zehn Prozent der weltweiten C02-Emissionen, berüchtigt für prekäre Arbeitsbedingungen und Ausbeutung ihrer Angestellten und kritisiert für stetigen Qualitätsverfall. Letzteres gilt nicht nur für Billigfirmen, sondern auch für große Designhäuser wie Chanel. Das Modeunternehmen hat den Preis für seine berühmte »Flap Bag« innerhalb von ein paar Jahren um über 5000 Euro ansteigen lassen; dafür wurde aber die Vergoldung der Schnalle und Henkel an der Tasche abgeschafft.

Andererseits hat Mode so viele Fans wie nie zuvor. Der weltweit steigende Wohlstand erlaubt es, dass vielerorts junge berufstätige Frauen genauso viele Kleider und Schmuckstücke besitzen können wie einst adelige Hofdamen. Waren Luxusartikel noch vor ein paar Jahrzehnten lediglich für einen kleinen Kreis verfügbar, so tragen heutzutage Teenager aus aller Welt Hermès-Gürtel und Prada-Rucksäcke. Man muss nicht einmal mehr wohlhabend sein, um Designerware zu besitzen: Viele Menschen verschulden sich im Namen der Mode, werden shoppingsüchtig; auch das schadet dem Ruf der Industrie, aber ändert nichts an ihrer Sogwirkung.

Die Nullerjahre bescherten uns Modeblogs; fortan diktierte der sogenannte Streetstyle die Trends und ließ Modejournalisten um ihre Stellung bangen (sie haben ihre Jobs noch immer, aber einige Influencer sitzen bei den Modenschauen inzwischen weiter vorn). Durch das Internet haben Menschen in allen Lebenssituationen Zugriff auf fundierte Kenntnisse der Modegeschichte, die früher nur wenigen Experten vorbehalten waren: Auf Social Media werden künstlerische Einflüsse auf Kollektionen diskutiert, Authentifizierungen vorgenommen, Preisvergleiche angestellt. Die Mode scheint greifbarer denn je, sie ist Teil unserer Persönlichkeit und unweigerlich mit unserem Wohlbefinden verbunden.

Aber nicht nur der Modegeschmack wird online geformt, sondern auch das Bedürfnis nach immer mehr Kleidung durch Social-Media-Kanäle regelrecht befeuert, was in den vergangenen Jahrzehnten zum Aufstieg der Fast-Fashion-Ketten wie Zara, H&M, Primark und Forever 21 führte. Da sich nicht jeder Konsument Designersachen leisten kann, oder zumindest nicht monatlich, wie die Fashion-Influencer es vorleben, wurden von den Fast-Fashion-Modeketten sogenannte Dupes erfunden: Legale Quasi-Kopien von teuren Accessoires und Prints wie den Hermès-Oran-Sandaletten oder dem berühmten Missoni-Zickzack-Muster, die auf den ersten Blick authentisch wirken. Der Fake-Wahn reicht neuerdings aber noch weiter: »Superfakes«, nicht mehr legale Kopien von teuren Designertaschen wie beispielweise der Birkin Bag (die mindestens 10 000 und manchmal gar 450 000 US-Dollar kosten kann), meist hergestellt in Asien, weisen selbst Preise von Luxusgütern auf und sind angeblich nicht mehr vom Original zu unterscheiden. Diese Waren erinnern an Labordiamanten, die gerade ebenfalls im Trend sind – doch ungleich diesen sind die Dupes weder human noch umweltfreundlich.

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Durch diesen überzogenen und logoversessenen Konsum entstehen wiederum Anti-Trends wie der Minimalismus, die »Capsule Wardrobe« (eine auf sehr wenige Kleidungsstücke beschränkte Garderobe; der Rest wird wohl mehr oder weniger umweltschonend entsorgt), und die Beschränkung auf das Second-Hand-Shopping (eine Entscheidung, die nur für Menschen aus Großstädten und mit Einheitsgrößen in Frage kommt). Der Wunsch nach Nachhaltigkeit und die Rückbesinnung auf Qualität und Schneiderkunst, sie sind sehr legitim. Aber eigentlich sind sie genauso ein von Influencern kreierter Trend wie der gerade angesagte Oversize-Blazer.

Man kann der Sogwirkung der Modebranche einfach nicht entfliehen, egal, wie sehr man sich von ihr fernzuhalten meint. Die Modeindustrie ist im Grunde wie die Lebensmittelindustrie: Wir brauchen Kleidung zum Leben – und wie die Gourmets, die ihr Essen genießen wollen, wollen wir Modeliebhaber uns schön und elegant fühlen. Nur die wenigsten von uns haben die moralische Überlegenheit, vegan – oder minimalistisch – zu werden.

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