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RKI-Protokolle: Das Ausschlachten
Der Umgang mit den RKI-Files zeigt, dass eine kritische Aufarbeitung in Deutschland nicht zu erwarten ist
Seit Monaten gibt es die Forderung nach Aufarbeitung der Corona-Zeit in Deutschland. Mögliche Formate werden genannt, etwa ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, eine Enquete-Kommission, Expertenrunden oder ein Bürgerrat. Wie in dieser Woche die Reaktionen auf die sogenannten RKI-Files gezeigt hat, dürfte es eine produktive Aufarbeitung in jedem Format schwer haben. Die mehrere tausend Seiten umfassenden Dokumente wurden nicht nur öffentlich gestellt, sondern zugleich von politischen Kreisen der Maßnahmenkritiker für ihre Zwecke der Deutungshoheit benutzt.
Es handelt sich um die Protokolle von Sitzungen eines Fachausschusses mit Beamten des Robert-Koch-Institutes (RKI), aber auch anderer Behörden, der während der Pandemie meist zweimal wöchentlich über die aktuelle Lage und mögliche Maßnahmen beriet. Ins Rollen kam das Ganze durch eine erfolgreiche Klage gegen die oberste Seuchenschutzbehörde auf Herausgabe der Unterlagen. Anfang April veröffentlichte das RKI dann das Gewünschte – allerdings mit extremen Schwärzungen nicht nur der Namen von Beteiligten, sondern auch von längeren Passagen und ganzen Tagesordnungspunkten. Als es breite Kritik hagelte, versprach Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eine weitgehend ungeschwärzte Veröffentlichung, was für den Zeitraum von Januar 2020 bis April 2021 auch geschah. Warum es mit dem Rest so lange dauerte, ist unklar. Jedenfalls war der Vorgang Wasser auf die Mühlen der Leute, die meinen, es solle vertuscht werden, dass die Öffentlichkeit im Auftrag der Politik belogen wurde, denn es habe gar keine tödliche Pandemie gegeben oder die Maßnahmen, Impfstoffe und Grundrechtseinschränkungen seien gefährlicher als diese gewesen.
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Dabei widerlegt der jetzige Leak einige Aufreger sogar. Zunächst hatten sich Leute in den sozialen Medien auf ein Protokoll vom 16. März 2020 gestürzt, in dem das RKI kurz vor dem ersten Lockdown über die Hochstufung der Risikobewertung von niedrig auf hoch beriet. Dabei fiel folgender Satz: »Wir warten auf ein Zeichen von (geschwärzt), wenn es um die Eskalation der Hochstufung geht.« Gleich wurde behauptet, dass irgendwelche Politiker und nicht die Experten die wichtigen Entscheidungen trafen. Fachleuten war indes klar, dass es sich bei der geschwärzten Person um den seinerzeitigen RKI-Vizechef Lars Schaade handeln musste, der in der Anfangsphase am kompetentesten in der Behörde war und wichtige Entscheidungen vorgab. Und er war es auch.
Nun stürzen sich die Akteure auf eine Passage vom November 2021. Darin heißt es: »In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?« Ein Vertreter der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sagte: »Dient als Appell an alle, die nicht geimpft sind, sich impfen zu lassen.« Dann äußerte ein Vertreter eines anderen Fachgebiets: »Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.« Die Formulierung wurde seinerzeit gerne von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verwendet, mit einem »vor allem« davor.
Die Bewertung der Passage hat mehrere Ebenen: Inhaltlich rechtfertigt sich Spahn jetzt damit, dass auf den Intensivstationen der Krankenhäuser vor allem Ungeimpfte lagen. Ähnlich äußerte er dies auch damals. Sein Nachfolger Lauterbach unterstützt ihn dabei. Das ist nachweislich korrekt, aber die Formulierung blendet einen Teil der Wirklichkeit aus.
Das war allerdings bereits zu jener Zeit in der breiten Öffentlichkeit bekannt. Auch wenn die RKI-Beamten ihren Dienstherren nicht offen kritisieren dürfen, konnte man in den damals viel beachteten Wochenberichten der Behörde nachlesen, welchen Anteil die Geimpften an Infektionsgeschehen und Krankenhausbelegung hatten. Der Autor dieser Zeilen verfasste im Oktober 2021 einen »nd«-Beitrag mit dem etwas provokanten Titel: »Die Welle der Geimpften«. Das Problem mit den einseitigen Äußerungen Spahns und anderer war, dass die Geimpften und Leute mit Genesenen-Status durch Lockerung der 3G-Regeln und den neuen 2G-Regeln fahrlässig in die Normalität entlassen und in falscher Sicherheit gewiegt wurden. Ob dies das Infektionsgeschehen mit antrieb, wäre bei einer Aufarbeitung der Covid-Zeit zu klären. Dies ist jedoch das Gegenteil dessen, was manche Schwurbler jetzt umtreibt.
Der Leak widerlegt einige Aufreger.
Die zweite Ebene ist die der Kommunikationsstrategie: Natürlich waren die Runden im RKI auch dazu da, sich darüber auszutauschen, was man wie in die Öffentlichkeit gibt. Die Beamten waren den Umgang mit Boulevradmedien nicht gewohnt und auch nicht entsprechend geschult. Gleichzeitig gab es die Bemühung, die Leute nicht zu verunsichern, indem man öffentlich dem Minister widerspricht, und Panik zu vermeiden.
Dabei musste man sich auch an den Gegenbenheiten orientieren. Etwa an der Verfügbarkeit von Impfstoffen: Bezüglich des Astra-Zeneca-Vakzins hieß es laut Protokoll Anfang Januar 2021, dieser sei »kein Selbstläufer« wie die anderen Impfstoffe, da er »weniger perfekt« sei. »Einsatz muss diskutiert werden.« Gleichzeitig sollte darauf nicht zu deutlich hingewiesen werden. Damals waren Vakzine sehr knapp, und die mRNA-Konkurrenz kaum verfügbar. Unter den Tisch gekehrt, was Kritiker suggerieren, wurde indes nichts. Die Wirksamkeit von Astra-Zeneca war gut, aber etwas weniger gut als bei Biontech und Moderna, und Sinusvenenthrombosen als mögliche Nebenwirkungen traten sehr selten auf. Beides war bekannt und wurde auch bei den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission ausführlich geprüft. Im Gegenteil entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck, es handle sich um einen »Impfstoff zweiter Klasse«. Mit der Folge, dass er zum Ladenhüter wurde. Die Politik in Brüssel und Berlin schloss mit den mRNA-Herstellern extrem ungünstige Verträge, mit Haftungsausschluss und zu überhöhten Preisen.
Ähnlich bei der Masken-Frage, einem weiteren roten Tuch der Maßnahmenkritiker: Sie zitieren den Satz aus einem Protokoll, laut dem es »keine Evidenz für Nutzen von FFP2-Masken jenseits des Arbeitsschutzes« gebe. Hierbei wurde der Schutz aber nicht per se in Frage gestellt, sondern nur speziell der von FFP2-Masken und zwar zu einer Zeit, als selbst Krankenhäsuer kaum an diese kamen. Daher wurde diskutiert, ob nicht OP-Masken im Normalfall ausreichend seien, zumal die Bürger die FFP2-Masken auch nicht korrekt einsetzen würden.
Letztlich belegen die Files vor allem, wie man beim RKI nach und nach dazulernte, wie es der Virologe Alexander Kekulé ausdrückt. Für ihn ist es »erstaunlich, wie unbedarft die am Anfang waren«.
Wirklich Neues geht aus den Protokollen nicht hervor. Die Fehler des RKI, aber auch die der Politik in Bund und Ländern, sind lange bekannt. Bei einer Aufarbeitung müsste es darum gehen, wie diese zustandekamen und was daraus folgt, damit sie sich nicht wiederholen. Dafür braucht es Selbstkritik der Beteiligten statt der ständigen Rechtfertigungen, wie jetzt wieder von Spahn. Und die Bereitschaft, Maßnahmen kritisch zu diskutieren, statt wie Lauterbach zu behaupten, man sei »gut durch die Pandemie gekommen«, oder im anderen Extrem alle Maßnahmen pauschal zu verteufeln. Doch auch bei den RKI-Files geht es nur um einen politischen Kampf um die Deutungshoheit – ausschlachten statt aufarbeiten lautet die Devise.
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