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»Zivilen Widerstand gegen militärische Angriffe gab es schon oft«
Sich gegen Militär gewaltfrei zur Wehr zu setzen: Die Idee der Sozialen Verteidigung entstand im Kalten Krieg. Was kann man heute damit anfangen?
Frau Schweitzer, Sie sind Geschäftsführerin des Bundes für Soziale Verteidigung (BSV). Was ist unter Sozialer Verteidigung zu verstehen?
Sie ist ein Konzept des nichtmilitärischen, gewaltfreien Widerstands in bestimmten Situationen, wie etwa einem militärischen Angriff, einem Putsch oder anderen antidemokratischen Vorfällen. Es handelt sich dabei um eine Sonderform des zivilen Widerstands, die darauf abzielt, nicht das Territorium, sondern die Lebensweise und die Institutionen eines Landes zu verteidigen.
Was würde das im Angriffsfall konkret bedeuten?
Die Grundidee der Sozialen Verteidigung ist es, im Extremfall zwar eine Besetzung des Landes hinzunehmen, dann aber die Zusammenarbeit mit dem Angreifer zu verweigern. Das Konzept entstand während des Kalten Krieges, als die Sorge bestand, der Warschauer Pakt könnte, geführt von der Sowjetunion, westeuropäische Staaten angreifen, um dort ein sozialistisches System zu errichten. Solch ein Regimewechsel funktioniert natürlich nur, wenn man die Bevölkerung dafür gewinnen kann und sie ihn akzeptiert.
Wurde die Soziale Verteidigung in der Vergangenheit schon erfolgreich angewendet?
Für zivilen Widerstand allgemein gibt es zahlreiche Erfolgsbeispiele, etwa wenn Diktatoren autoritärer Regime gestürzt wurden. Bei Sozialer Verteidigung ist es schwieriger: Zivilen Widerstand gegen militärische Angriffe gab es schon oft, etwa bei den Entkolonialisierungskämpfen oder in Bürgerkriegen – aber bislang war das immer spontan und in Grenzen erfolgreich. Erwähnenswert ist aber sicherlich der Widerstand gegen die Ruhrbesetzung 1923. Damals marschierten französische und belgische Truppen ins Ruhrgebiet ein, um Reparationen einzutreiben, die in Folge des Ersten Weltkriegs entstanden waren. Die lokale Bevölkerung, insbesondere die Gewerkschaften, wehrten sich: Bergarbeiter und Eisenbahner legten ihre Arbeit nieder, sodass die Truppen Schwierigkeiten hatten, Kohle und Stahl abzutransportieren. Das war einige Monate sehr erfolgreich, irgendwann brach die Reichsregierung den Widerstand aber ab, weil die Kosten für die Zivilbevölkerung zu hoch wurden. Kurz danach kam es dann aber zu Verhandlungen unter englischer Vermittlung, die zu einer Reduktion der Reparationszahlungen führten.
Christine Schweitzer, geboren 1959, beschäftigt sich wissenschaftlich mit Fragen von Krieg und Frieden am Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK). Zudem ist sie Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung. Am 6. und 7. September organisierte sie einen internationalen Kongress zur Sozialen Verteidigung, auch um das Konzept wieder aus der Versenkung zu holen.
Die Begriffe Soziale Verteidigung, ziviler Widerstand und ziviler Ungehorsam scheinen sehr ähnlich. Wie hängen sie zusammen?
Die Soziale Verteidigung hat sich aus der Idee des zivilen Widerstands heraus entwickelt. Bei diesem geht es normalerweise darum, innerhalb eines Staates gewaltfrei gegen eine Ungerechtigkeit vorzugehen. Er deckt also ein breites Spektrum an Szenarien ab: vom Sturz autoritärer Regierungen bis hin zu Protesten gegen Atomwaffen oder Braunkohleabbau. Ziviler Ungehorsam ist eine Methode der gewaltfreien Aktion, die dabei eingesetzt werden kann. Er kommt meistens dann zum Einsatz, wenn legale Protestmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Beim zivilen Ungehorsam geht es immer um eine kontrollierte Gesetzesübertretung, sei es, wenn Jugendliche eine Erfassung zur Musterung verweigern, Menschen eine Sitzblockade vor einem Atomwaffenlager durchführen oder in ein Braunkohlekraftwerk eindringen.
Bei zivilem Ungehorsam kritisieren Linke häufig das Beharren auf der Gewaltfreiheit, weil militantes Verhalten gegenüber einer Staatsgewalt legitim oder sogar notwendig sein könne.
Ich kann zwar gut verstehen, wie Menschen zu dieser Ansicht kommen. Trotzdem halte ich es für gefährlich zu glauben, dass man mit Gewalt etwas erreichen kann, obwohl es sicherlich auch Grauzonen gibt. In der Bewegungsforschung gibt es eine Diskussion darüber, ob sogenannte radikale Flanken einer Bewegung eher nutzen oder eher schaden. Es gibt Argumente für beides. Ich glaube aber, dass Gewalt oft zu Eskalation führt und der Sache schadet. Beispiele wie der Bürgerkrieg in Syrien zeigen, dass gewaltfreie Proteste, die in Gewalt umschlagen, katastrophale Folgen haben können.
Zugleich sagen Sie aber, dass es für die gewaltfreie Soziale Verteidigung eigentlich keinerlei richtige Erfolgsbeispiele gibt.
Dass die Soziale Verteidigung unrealistisch ist und nicht funktionieren kann, ist ein häufiger Vorwurf und hat auf den ersten Blick seine Berechtigung. Aber man sollte auch nicht vergessen, dass sie nie vorbereitet und trainiert wurde – Regierungen tendieren dazu, immer Gewalt als das letzte Mittel zu sehen.
Auf der wissenschaftlichen Tagung zu Sozialer Verteidigung, die am Wochenende stattgefunden hat, wollten Sie die Erforschung von zivilem Widerstand und von Sozialer Verteidigung wieder näher zusammenbringen. Welche Erkenntnisse sind dabei relevant?
Die Idee der Sozialen Verteidigung ist, was Friedensforschung und Bewegung angeht, seit Ende des Kalten Krieges in den Hintergrund geraten. Aber das wissenschaftliche Interesse an zivilem Widerstand hat in den vergangenen 30 Jahren stark zugenommen. Und es gibt viele wichtige Erkenntnisse, die auch für die Soziale Verteidigung wichtig sind. Etwa die Arbeit von Erica Chenoweth und Maria Stephan, die anhand einer Datenbank nachgewiesen haben, dass im Zeitraum von 1900 bis 2006 gewaltfreier Widerstand fast zweimal so erfolgreich war wie gewaltsamer. Eine weitere bedeutsame Erkenntnis betrifft die Notwendigkeit einer gründlichen Planung: Das mag zwar zunächst ganz simpel klingen, sich aber auf mögliche Szenarien vorzubereiten und klare Strategien zu entwickeln, ist entscheidend für den Erfolg, sowohl im zivilen Widerstand als auch in der Sozialen Verteidigung. Ebenso wichtig ist es, einen Teil der Sicherheitskräfte auf die eigene Seite zu ziehen. Also nicht zu sagen: »Wir reden nicht mit der Polizei oder mit Soldaten«, sondern aktiv auf diese zuzugehen und zu versuchen, sie zu überzeugen. Wo das gelungen ist, waren Aufstandsbewegungen wesentlich erfolgreicher.
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Im Tagungsprogramm fand sich auch der Punkt »Reorganizing and Limiting Military Defence«. Auf Deutsch: »Militärische Verteidigung neu organisieren und beschränken«. Worum ging es dabei?
In den 70er und 80er Jahren gab es verschiedene Konzepte einer alternativen Sicherheitspolitik, darunter auch das der »defensiven Verteidigung«. Diese zielt darauf ab, militärische Verteidigung ganz strikt auf die Landesverteidigung zu beschränken. Indem man zeigt, dass ein Angreifer zum Scheitern verurteilt ist, gewährleistet man immer noch eine gewisse Abschreckung, aber man verzichtet ganz bewusst auf Atomwaffen und andere Massenvernichtungswaffen, also auf alles, was die andere Seite als Bedrohung betrachten kann. Dieses Konzept wurde häufig mit der Sozialen Verteidigung zusammengedacht.
Sie lehnen also eine »defensive Verteidigung« – auch wenn sie militärisch ist – nicht pauschal ab, sondern überlegen sich, wie man sie mit der Sozialen Verteidigung verbinden kann?
Ich finde, das sollte auf jeden Fall diskutiert werden. Aber es gibt von Seiten der Sozialen Verteidigung auch viele kritische Anfragen, im Kern diese: »Wirkt Gewaltfreiheit noch, wenn geschossen wird?« Was die defensive Verteidigung und die Soziale Verteidigung eint, ist die Forderung nach Alternativen zu dem, was im Moment in Bezug auf Aufrüstung und Militarisierung läuft. Und wenn irgendeine Regierung in absehbarer Zeit sagen würde »Wir schauen uns die defensive Verteidigung mal an«, dann wäre das schon ein sehr großer Fortschritt.
Es ging auf der Tagung auch um die Ukraine. Welche Erfahrungen gibt es dort in Bezug auf Soziale Verteidigung, nach mehreren Jahren Krieg?
Obwohl die Ukraine entschieden hat, sich militärisch zur Wehr zu setzen, gab es auch viel spontanen zivilen Widerstand, besonders in den ersten Monaten des Überfalls Russlands. Das hat zwar nachgelassen, trotzdem gibt es in den besetzten Gebieten weiterhin Formen des zivilen Widerstands, wie etwa Untergrundschulen. Diese Aktivitäten sind jedoch weniger öffentlich und schwieriger zu dokumentieren.
Was erhoffen Sie sich als Wirkung von diesem Kongress?
Diese internationale Tagung war eine besondere Veranstaltung. Sie hat Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt zusammengebracht, um ihre Erkenntnisse zu teilen. Es ist ein Versuch, an die Traditionen der 70er und 80er Jahre anzuknüpfen, als Soziale Verteidigung ein größeres wissenschaftliches Standing hatte. Wir hoffen, dass sie ein Anstoß für weitere Forschungen in diesem Bereich ist und Aktivist*innen, die für Soziale Verteidigung eintreten, Anregungen gibt.
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