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Die wirklichen Notlagen
Wolfgang Hübner über die deutsche Asyl-und Migrationsdebatte
Notlage – das ist das Wort der Stunde im unseligen migrationspolitischen Überbietungswettbewerb der Parteien. Eine Notlage an den Grenzen würde bedeuten, dass die Polizei jegliche Kontrolle verloren hätte und Deutschland komplett überfordert wäre. Fachleute weisen das mit Argumenten zurück, ohne Probleme zu beschönigen; Politiker diverser Parteien malen dagegen Horrorgemälde von den deutschen Zuständen und führen so ziemlich jedes Problem auf Migranten zurück.
Die eigentlichen Notlagen in Deutschland sind andere. Es ist eine demokratiepolitische Notlage, dass wir es inzwischen mit einer breiten Front von AfD über Union, BSW und FDP bis zu SPD und Grünen zu tun haben, die allesamt einen populistischen Furor erzeugen oder vor ihm zurückweichen. Politiker, die sich Anfang des Jahres in Proteste gegen die AfD einreihten, betreiben jetzt deren Geschäft. In der Hoffnung auf ein paar Prozent mehr in den Umfragen werden Migranten und Asylbewerber bedenkenlos in Sippenhaft genommen.
Es ist eine koalitionspolitische Notlage, wenn der FDP-Generalsekretär im Bundestag erklärt, beim Migrationsthema gebe es keine Ampel mehr. Offenbar hat die Union den Keil schon tief in diese Regierung hineingetrieben; Olaf Scholz versuchte in der Regierungserklärung seine Haut zu retten, indem er sich als den harten Abschiebekanzler und die Union als einen Haufen Weicheier darstellte.
Es ist eine rechtspolitische Notlage, wenn der Fraktionschef der FDP erklärt, es funktioniere seit Jahren nicht, »sich an juristischen Begriffen entlangzuhangeln«. So kann man es auch sagen, wenn einem Gesetze auf den Keks gehen. Wahrscheinlich sollte die FDP nicht länger als Rechtsstaatspartei missverstanden werden.
Und es ist eine humanitäre Notlage, wenn jetzt auch Menschen abgeschoben werden, die seit Jahren hier leben, voll integriert sind und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten. Die Berichte darüber häufen sich. Deutschland ist auf dem besten Wege, endgültig ein borniertes, selbstgerechtes, spießiges Land zu werden.
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