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- Gerede von der Chancengleichheit
Viele Nieten, wenige Gewinner
Für Olivier David hat der Begriff Chancengleichheit den Begriff Klassenkampf ersetzt.
In den vergangenen Monaten sind gleich mehrere Bücher zum Thema Armut herausgekommen, die mit einem Begriff werben, den es sich lohnt, genauer anzuschauen: Chancengleichheit. In einem der Bücher heißt es auf der Rückseite, die Autorin »macht deutlich, wie fehlende Chancengleichheit dieses Land prägt und wie wir das ändern können«. In einem anderen, ebenfalls jüngst erschienenen Buch tönt es ganz ähnlich. Dort heißt es auf dem Buchrücken, der Text sei ein »ein starkes Plädoyer für Verteilungsgerechtigkeit und echte Chancengleichheit«. Auch hier wieder das Wort: Chancen.
Diese beiden Beispiele stehen symptomatisch für eine zunehmende Marginalisierung linker Politik – und damit sind sie bei weitem nicht alleine. Egal in welchem gesellschaftlichen Bereich wir schauen: politisch, künstlerisch, zivilgesellschaftlich – überall erleben wir eine Verzwergung linker Anliegen.
Auf alltagskonforme Größe zurechtgestutzte Überreste von Gleichheit sollen einfacher umzusetzen sein. Das Dörnchen am Reförmchen ist aber folgendes: Chancengleichheit ist nichts anderes als das Versprechen, der gleichberechtigte Teil einer Lotterie zu sein, in der es viele Nieten, aber nur wenige Gewinner gibt. Wir leben ja immer noch in ein und derselben Gesellschaft und die hat nicht aufgehört, scheiße zu sein. Im Gegenteil: Es drohen Massenentlassungen bei VW, Migration wird weiter kriminalisiert, Armenhass hat Konjunktur. Was dagegen helfen soll, ist nicht das gute Leben für alle, sondern die Chance für ein solches Leben. Wie soll das aber in Echt aussehen? Lineal, Mathehefte und Nachhilfe für alle – dann ist Chancengleichheit hergestellt?
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.
Chancengleichheit kann es in einer ungleichen Welt niemals geben, sie ist eine Illusion. Der Millionärssohn, das zeigen Zahlen, wird bei selber Leistung auch weiterhin die bessere Benotung in der Schule bekommen als der Arbeitersohn. Pierre Bourdieu hat in seiner Studie »Die feinen Unterschiede« ein ganzes System aus Unterschieden herausgearbeitet, in dem über verschiedene Kapitalsorten Zugänge zu Macht und Wohlstand künstlich eingeschränkt werden.
Für Menschen, die von der Ungleichheit in unserer Gesellschaft zu Boden gedrückt werden, kann Chancengleichheit keine Lösung bereithalten. Und selbst wenn einigen hoch geholfen wird, dann doch niemals allen. Was letztlich gesagt wird mit der Idee der Chancengleichheit, ist nichts anderes als: Wir trennen die Spreu vom Weizen. Wenn alle dieselben Chancen bereitgestellt bekommen, werden wir schon sehen, wer sie wahrnimmt und wer nicht.
Der Gedanke der Chancengleichheit kommt nicht von links, denn er formuliert ein Leistungsprinzip, hinter dem immer ein Teil der Bevölkerung zurückbleibt. Wir leben in einer Gesellschaft, die – egal wie sie organisiert ist – keine Kapazitäten hat, allen ein gutes Leben zu bereiten. Schränken wir also unser Denken nicht unnötig ein und bleiben bei einer wahrlich linken Forderung: das gute Leben für alle. Darunter sollten wir es nicht machen.
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