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Tinder oder Kinder
Cordula Daus’ ebenso quirliger wie wahrer Liebesroman »Sehr« ist zugleich die Beschreibung einer Epoche
Der Liebesroman »Sehr« von Cordula Daus ist in »Dienste« eingeteilt wie eine moderne Minne, und das hat seinen guten Grund. Der Grund liegt in der Minnestruktur selbst, die hier lediglich umgedreht wird. Bezeichnenderweise trennt etwa der »Vrouwen dienest« (Frauendienst; 1255) des Minnesängers Ulrich von Liechtenstein (1200–1275), der auf dem Cover von Daus’ Roman ins Turnier reitet, zwischen »vrouwe« (Dame) und »wip« (Weib). Die »vrouwe« besingt er, mit dem »wip« schläft er. Die eine bedient der Minnesänger, die andere kennt er. Kay, die Heldin von Daus, hält es umgekehrt, sie schläft grundsätzlich nicht mit Männern, die sie kennt.
Was »Sehr«, wenn auch in der genannten Umkehrung, mit der Minne verbindet, unterscheidet sie klar von allen anderen Modellen des Liebesromans, die von der »Leidensgeschichte« (1132) des Abaelardus über Madame de Lafayettes »Prinzessin von Clèves« (1678), »Nachtgewächs« (1936) von Djuna Barnes bis hin zu Ronald M. Schernikaus »So schön« (1982), die oft schwierige Annäherung der Liebenden thematisieren. Bei Daus soll diese Annäherung um jeden Preis vermieden werden. Das Prinzip der Partnervermittlung »Tinder« gibt das Prinzip des Romans vor: Anonyme treffen sich mit Anonymen zu anonymem Sex.
Schon im ersten Dienst, einem Maler namens Ran dargebracht, wollen beide Partner »dem Kennenlernen ausweichen« und jedes »Meinen meiden«, sie dienen sich, indem sie sich nicht meinen, auch wenn Kay sich am Ende doch gern einmal, wenigstens »minimal gemeint« fühlen möchte. Aber keine Chance. Der zweite Dienst, für den dicken, ebenso selbstgefälligen Wolf, steht erklärtermaßen im Zeichen der »Post-Love«, der dritte Mann, Sef, ist immerzu »total busy« und deshalb aus Prinzip nicht erreichbar, der vierte Dienst, mit Rek, ist ein Sich-Verfehlen auf Google Maps und der fünfte bringt die dem Roman unterliegende Gesellschaft auf den Begriff: Bam, der abgehalfterte Schauspieler, behandelt Kay »wie abgemacht«, auch wenn nicht abgemacht war, dass er sie »blank« nimmt. Bereits Friedrich Engels erkannte in der Ehe unter kapitalistischen Verhältnissen einen Kauf- und Nutzungsvertrag. Allerdings haben sich seither die Laufzeiten solcher Verträge extrem verkürzt.
Die neueren Verträge werden nicht mehr wie einst in Clärchens Ballhaus, in der Bar zum Krokodil oder im Swinger-Club mündlich, sondern schriftlich, vorab, gewissermaßen nach notarieller Prüfung geschlossen. Jeder Vertragspartner besitzt vom andern die Basisinformationen, sogar sein »Video-Gesicht«, beschreibt sich dem Gegenüber, »als ob er sich selbst mit Zahlen malen würde«, und hat seine Wünsche und Vorlieben genauestens definiert. Nun kann im Grunde nichts mehr schiefgehen. Und doch geht etwas gewaltig schief. Es ist der sechste Dienst. Kay verliebt sich. Wie konnte das geschehen?
Daus scheint die Katastrophe freudianisch erklären zu wollen: Kay verfällt Sal, einem georgischen Schriftsteller, der »in einem möblierten Stipendium« haust, möglicherweise deshalb, weil er ein »Narcissus« ist. Sigmund Freud schreibt in »Zur Einführung des Narzissmus« (1914), der Reiz des Kindes beruhe »zum guten Teil auf dessen Narzissmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit«, das gelte auch für den »Reiz gewisser Tiere, die sich um uns nicht zu kümmern scheinen, wie der Katzen und großen Raubtiere«. Ja, selbst »der große Verbrecher und der Humorist« becircten uns mit der »narzisstischen Konsequenz«, mit der sie »alles ihr Ich Verkleinernde von ihm fernzuhalten wissen«.
Sicher, Sal ist all das, ein Kind, ein Raubtier, ein Verbrecher, ein Humorist. Dennoch fragt sich, was ihn über all die andern Narzissten erhebt, denen Kay zuvor begegnet ist. Denn Narzissten waren sie allesamt, selbstgenügsam, unzugänglich, auch wenn manche außer Sex auch noch die Illusion einforderten, sie wären heiß begehrt. Sal unterscheidet sich von den anderen Liebhabern vielleicht dadurch, dass er von Abschiebung bedroht, also verletzlich ist. Außerdem macht er Kay Geschenke. Und dieser gefährlichen Mischung erliegt sie schließlich, lässt sich noch mit 45 ein Kind machen, was Sal völlig wurst ist. Sie scheint es widerwillig abtreiben zu lassen, hat aber später doch ein Kind. Ohnehin fragt sich, ob wir es immer mit derselben Kay zu tun haben; sie tritt manchmal auch im Plural auf. Das Kind bezeichnet jedenfalls eine Wendung ins Ernste und Problematische, man möchte fast sagen: ins Heterosexuelle. Daus, eine wahre Meisterin des Anakoluth, also des unvollendeten Satzes, formuliert finster: »Weil mit dem Kind auch der Gedanke auf die Welt gekommen ist, dass das Kind tot.«
Gern riefe die Leserin Kay mit dem letzten Satz von Daus’ Roman zu: »Sei furchtbar und wehre dich!« Allein, Kay teilt das Schicksal aller Figuren von Romanen (außer denen von Macedonio Fernández), dass sie den Roman, in dem sie vorkommen, nicht gelesen haben können. Sie will fruchtbar, nicht furchtbar sein, sie will der »Gruppe der austauschbaren Wesen« ein weiteres unglückliches Mitglied hinzufügen, auch wenn sie lieber sein Vater als seine Mutter wäre. Mit dem »Sehr« des Titels ist übrigens nicht das Adverb gemeint, sondern die noch in »versehrt« festgehaltene ursprüngliche Bedeutung des Wortes: »wund, Wunde«.
Das ist alles ganz hinreißend in sarkastischen Notizen, Chatverläufen und konkreter Poesie geschrieben und gesetzt und durchläuft flink sämtliche uns Postmodernen noch zugänglichen Gefühlsschichten von Happy-Happiness bis zur posttraumatischen Belastungsstörung. Wie das Impressum ausweist, stand der bekannte Experimentaldichter Ferdinand Schmatz der Autorin als »Mentor« zur Seite.
Einen Extraspaß haben alle, die in Berlin leben, wo der Roman spielt. Denn dass man am Gesundbrunnen krank sein oder einem an der Gedächtniskirche etwas einfallen kann, oder dass zwei in der Hasenheide »rammeln« können wie die Hasen – wir hätten es uns denken können und haben es doch nicht gedacht.
Cordula Daus: Sehr. Liebesroman. Verlag Ritter, 127 S., br., 19 €.
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