Unglaubwürdiges Interesse an den Wählern

Olivier David kommentiert die ausbleibende Nichtwähler-Schelte vor den Bundestagswahlen

Bundestagswahl – Unglaubwürdiges Interesse an den Wählern

In den vergangenen Jahrzehnte hatte die Frage nach der Wahlbeteiligung vor jeder Wahl Konjunktur. Damit schloß sich schon fast traditionell eine Debatte um diejenigen an, die nicht wählen gegangen sind. Dieser Debatte haftete beinahe immer ein Geschmäckle von Lehrerkonferenz an, bei der die pathologischen Fälle jedes Jahrgangs besprochen werden. In oberlehrerhaftem Ton wurde über »die Nichtwähler« gesprochen und dabei immer betont, es handele sich nicht um ein homogenes Völkchen.

Vor dieser vorgezogenen Bundestagswahl ist es anders; es herrscht beinahe Stille. Sucht man nach Texten zur Wahlbeteiligung, wird man kaum fündig. Zumindest hat das ZDF einen Übersichtstext, der mit einer falschen Aussage endet: »Wer nicht wählen geht, für den entscheiden andere, in welche Richtung sich die Politik entwickelt.«

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der monatlichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.

Zur Erinnerung: Repräsentative Demokratie heißt, dass immer andere entscheiden, in welche Richtung sich die Politik entwickelt. Und das nicht unbedingt zum Wille der Wähler*innen. Ziemlich genau vor einem Jahr lag die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung unter SPD- und Grünen-Anhänger*innen bei 65 und 69 Prozent. Das heißt, es entscheiden nicht nur so oder so andere, in welche Richtung sich die Politik entwickelt. Offenbar haben selbst Menschen, die an Wahlen teilnehmen, den Eindruck, ihre Stimme stärkt nicht die Politik, die sie sich eigentlich wünschen – und die sie versucht haben, über ihre Stimmabgabe wahrscheinlicher werden zu lassen.

Was tun? Manche machen nicht mit, zwingen wir sie! Autorin Özge Inan stellt zum Thema Wahlpflicht bei »Spiegel Online« richtig fest: »Demokratie ist kein Zwang.« Und in der »Taz« kritisiert Autorin Simone Dede Ayivi das Nichtwählen Linker als peinlich. Ansonsten Stille im Blätterwald. Bei den Bundestagswahlen davor sah das noch anders aus. Anhand von Google Trends zeigt sich, dass Begriffe wie »Wahlpflicht« oder »Nichtwähler« immer dann Konjunktur haben, wenn sie gebraucht werden.

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War die Debatte um Wahlbeteiligung vor den Landtagswahlen 2024 in Ostdeutschland in aller Munde, so wurde im Nachgang kaum mehr darüber gesprochen, dass der liberale Mythos, eine hohe Wahlbeteiligung senke per se die Zustimmung für die AfD, gescheitert ist. Das führt zu Pudels Kern: Die meisten Demokratie-Besorgten haben ein rein strategisches oder funktionales Interesse an der Wahlbeteiligung.

Eine hohe Wahlbeteiligung wird dann gebraucht, wenn ihr Ergebnis progressivere Parteien begünstigt. Eine niedrige Wahlbeteiligung wird in dieser Logik erst dann zum Problem, wenn das Ergebnis der Wahlen nicht wünschenswert ist. Das Verständnis dahinter ist besorgniserregend. Fast alle politischen Akteur*innen haben sich ihr funktionales und zweckgerichtetes Verhältnis zu Wähler*innen aus der freien Wirtschaft abgeschaut und es auf politische Fragen übersetzt. Die Menschen in diesem Land sind aber keine Kund*innen der Demokratie; sie sind ihr ausgesetzt. Im Guten, wie im Schlechten. Ihr Recht auf Partizipation und Mitsprache ist keines, das bei guter Großwetterlage ausgeteilt und bei Unwetter wieder einkassiert werden kann.

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