Für ein anderes, besseres Amerika

Das Vermächtnis der Literaturhistorikerin Wilma Iggers

  • Mario Keßler
  • Lesedauer: 3 Min.

In der ersten tschechoslowakischen Republik fühlten sich die Juden assimiliert und anerkannt, bis die Zerschlagung des Staates durch das Hitler-Regime diesen Zustand weitgehender Sicherheit beendete. Die betraf auch die am 23. März 1921 in Mirschigkau (heute Mířkov), einer kleinen Gemeinde im südlichen Egerland, geborene Wilma Iggers, die im nahegelegenen Bischofteinitz (Horšovský Týn) aufwuchs. Zuletzt lebte die Kulturhistorikerin und Germanistin in Albany, nahe Buffalo im US-Staat New York, wo sie am 23. Februar, vier Wochen vor ihrem 104. Geburtstag, verstarb.

Wilhelmina Abeleles, so ihr Geburtsname, wuchs mit deutscher Muttersprache auf und lernte in Vorbereitung auf das Gymnasium Tschechisch. Sie beherrschte die Sprache bald fließend und begeisterte sich für die tschechische Kultur und Literatur, vor allem ihre Märchen- und Sagenwelt, wovon ihr Erinnerungsbuch »Böhmische Juden. Eine Kindheit auf dem Lande« zeugt, das Monikas Richarz 2020 umsichtig edierte. Im September 1938 verließ die Familie ahnungsvoll die Tschechoslowakei in Richtung Kanada und fasste auf einer Farm in der Nähe von Hamilton (Ontario) Fuß. Dort erfuhr sie vom Münchner Abkommen, das ihre ehemalige Heimat den deutschen Okkupanten auslieferte.

Wilma lernte sehr rasch Englisch. Ab 1940 studierte sie Deutsch und Französisch und erwarb in Chicago mit einer Arbeit über Karl Kraus den Doktorgrad. Dort lernte sie auch ihren späteren Ehemann kennen. Georg Iggers (1926–2017) stammte aus einem jüdischen Elternhaus in Hamburg. Er wurde ein sehr bekannter Historiker mit dem Schwerpunkt internationale Historiographie-Geschichte, während ihr Spezialgebiet zunächst die deutschsprachige Literatur- und dann die europäisch-jüdische Sozialgeschichte wurde. Wilma und Georg bekamen drei Söhne, denen sie ein beispielhaftes Leben vorlebten: Sie arbeiteten, zunächst auch mit Zeitverträgen, an kleinen Hochschulen des amerikanischen Südens, bevor beide in Buffalo Professuren erhielten: Georg an der State University of New York at Buffalo, Wilma am Canisius College. Die schließlich gelungene akademische Laufbahn aber erkauften sie sich niemals mit politischen Zugeständnissen. Beide waren in einer Zeit, die hohe persönliche und berufliche Risiken barg, in der Bürgerrechtsbewegung aktiv, setzten sich für das Ende der »Rassen«-Trennung ein und unterstützten Wehrdienstverweigerer, die den Gestellungsbefehl nach Vietnam verweigerten.

Wilma und Georg Iggers wurden auch zu Mittlern zwischen den Welten im Kalten Krieg. Sie suchten, sobald dies möglich war, Kontakte nach Bischofteinitz; der Ort verlieh Wilma Iggers schließlich die Ehrenbürgerschaft. Zeitweise auch in Göttingen lebend, öffneten beide einer jungen westdeutschen Wissenschaftler-Generation Wege zum Studium und zur Forschung nach Nordamerika. Als Gäste auch von Universitäten und Akademie-Instituten der DDR knüpften sie Kontakte zu kritischen, linken Kirchenkreisen. Ebenso selbstverständlich war für sie beide die Unterstützung der vom Hinauswurf bedrohten und oftmals betroffenen Historiker der DDR nach 1990 – obwohl sie deren frühere Prämissen kritisiert hatten. Auch der Verfasser dieser Zeilen hat durch Georg und Wilma, die ihm zu engen Freunden wurden, viel an Solidarität erfahren. Wilmas Arbeiten, so zur Literaturgeschichte, zur Geschichte böhmischer Frauen und über die Juden in der Tschechoslowakei, künden ebenso wie die gemeinsam mit ihrem Mann verfasste Doppel-Autobiografie »Zwei Seiten der Geschichte. Lebensbericht aus unruhigen Zeiten« (2002) über den wissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Wert hinaus von der Menschlichkeit einer in jeder Hinsicht hellwachen Zeitgenossin.

Wilma Iggers verkörperte bis zu ihrem letzten Lebenstag beispielhaft ein Amerika, an das die zur Macht gelangte Clique um Donald Trump – hoffentlich vergeblich – die Axt anzulegen sucht.

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