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Berlin: Mit Sozialberatung und Fonds gegen Politikverdrossenheit

»Die Linke hilft«: Niklas Schenkers alternative parlamentarische Praxis

Niklas Schenker vor seinem Abgeordnetenbüro in Charlottenburg
Niklas Schenker vor seinem Abgeordnetenbüro in Charlottenburg

»Bei allen Wohnungen, die ich finde, wird immer nach einem WBS gefragt«, erklärt ein junger Mann auf Englisch sein Problem. Er hat einen Antrag für einen Wohnberechtigungsschein dabei, den er aber alleine nicht ausfüllen kann. Niklas Schenker geht mit ihm Schritt für Schritt das Formular durch. Schenker ist Mitglied der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, dort Sprecher für Mieten und Wohnen. Der junge Mann ist am vergangenen Freitag in die Miet- und Sozialsprechstunde gekommen, die Schenker wöchentlich in seinem Büro in Charlottenburg anbietet. Nach gut zehn Minuten ist der Antrag ausgefüllt. Nur noch Gehaltsnachweise fehlen, dann kann er das Formular abschicken.

Die Sprechstunde macht Schenker seit Mai 2024. Vorher gab es schon eine offene Kiezsprechstunde, aber die war nicht so gut besucht. Auch die Sozialsprechstunde musste erst anlaufen. Aber nach einer Werbeoffensive in den Charlottenburger Großwohnsiedlungen mit Flyern und auf Social Media kommen wöchentlich vier bis sechs Personen. »Es gibt extrem viele Leute mit Problemen«, sagt Schenker. Viele kämen mit einfachen Sachen, weil sie Hilfe beim Ausfüllen eines Formulars oder Unterstützung mit der Mietpreisbremse brauchen. Aber auch größere Probleme wie drohende Zwangsräumungen bearbeite man.

Die Inspiration für die Sozialsprechstunde kommt aus Österreich. Die Kommunistische Partei Österreich (KPÖ) konnte dort – gegen den politischen Trend in der Alpenrepublik – regional sehr gute Wahlergebnisse einfahren, auch wegen solchen Beratungsangeboten. Schenker und sein Büroteam waren vor zwei Jahren für eine Woche bei der KPÖ Salzburg zu Besuch. »Das hat sich nach einer guten Praxis angefühlt, die eine sozialistische Partei machen sollte«, berichtet er.

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Neben der Miet- und Sozialsprechstunde bietet das Büro einmal im Monat auch eine Asyl- und Aufenthaltssprechstunde sowie eine Renten- und eine Stafrechtsberatung an, die von Ehrenamtlichen getragen werden. Die Sprechstunden sind Teil des Konzepts »Die Linke hilft«, zu dem auch die Organisierung von Mieterversammlungen und ein Sozialfonds für Menschen in Notlagen gehören. Letzteren finanziert Schenker durch die Deckelung seines Abgeordnetengehalts auf 2850 Euro. Seit Anfang des Jahres hat Schenker 3000 Euro ausgezahlt.

Die zweite Person, die am Freitag nach Beratung sucht, braucht finanzielle Unterstützung. Die alleinerziehende Mutter stand nach der Trennung von ihrem Partner 2020 auf der Straße. »Mit vier Kindern und drei Koffern«, wie sie sagt. Sie kam bei einem alleinstehenden Mann unter, und hat es trotz allem geschafft, Arbeit zu finden und sich und ihre Kinder zu finanzieren. Jetzt aber will ihr Vermieter, ein landeseigenes Wohnungsunternehmen, sie aus ihrer Wohnung werfen. Ihre Miete hat sie immer gezahlt. Aber sie durfte nie in den Mietvertrag einsteigen, und da der ursprüngliche Hauptmieter ausgezogen ist, will der Vermieter die Wohnung räumen lassen. Sie ist verzweifelt, hat schon hunderte Bewerbungen für Wohnungen geschrieben. Schenker verspricht, einen Brief an das Wohnungsunternehmen zu schicken und bietet finanzielle Unterstützung für die Anwaltskosten an, die die junge Frau widerwillig annimmt.

An dem Sozialfonds gab und gibt es Kritik. Auch in der Partei habe es geheißen, das sei nur »Charity«, Wohlfahrt, berichtet Schenker. »Ich würde das ein bisschen anders sehen. In manchen Situationen hilft einfach nur Geld.« Einerseits sei der Sozialfonds für ihn eine Form der Umverteilung im Kleinen. Und andererseits müsse man, um Leute zu ermächtigen, manchmal den ersten Schritt gehen und helfen.

Das Beratungsangebot soll ausgeweitet werden, vor allem wegen des großen Bedarfs. Neben einem weiteren Termin für die Sozialsprechstunde soll es im Charlottenburger Büro zusätzlich eine Bürgergeldsprechstunde geben. Aber die zentrale Frage sei aktuell, wie man es schaffe, von der Einzelfallhilfe zur Organisierung zu kommen, sagt Schenker. »Warum sind so wenig Leute in der Partei, die Bürgergeld beziehen oder am Arbeiten sind?«, fragt er rhetorisch. Wenn man selber mit so vielen anderen Problemen zu kämpfen habe, bleibe eben die politische Praxis am ehesten außen vor. »Und auch das wollen wir verändern«, so Schenker.

»Wie können wir die Leute von unserem politischen Projekt überzeugen, wenn wir es nicht einmal schaffen, sie vor einer Zwangsräumung zu bewahren?«

Niklas Schenker Linksfraktion im Abgeordnetenhaus

Schenker macht nicht alle Beratungen selbst. Seine Mitarbeiter beraten viel am Telefon, manche Anfragen können sie im Büro auch nicht selber bearbeiten, sondern müssen an Anwält*innen oder andere Beratungsstellen verweisen. Die Beratungen haben auch Einfluss auf Schenkers Arbeit im Parlament. So ist er etwa aus den Beratungen und den in der Folge entstandenen Mieterversammlungen auf die Problematik von überhöhten Heizkostenabrechnungen aufmerksam geworden, die er nun immer wieder im Abgeordnetenhaus thematisiert. Ein anderes Beispiel sind die Zustände bei den landeseigenen Wohnungsunternehmen. »Etwa 50 Prozent der Fälle hier in der Beratung sind Leute, die Probleme mit der Gewobag haben.«

Die Beratungen hätten seine politische Praxis verändert, sagt Schenker. Man entwickle ein anderes Gefühl dafür, wie schlimm die Verhältnisse tatsächlich sind. »In politischen Diskussionen gibt das auch eine andere Sicherheit, wenn ich gleich drei, vier Leute im Kopf habe, mit denen ich in meiner Sprechstunde gesprochen habe.« Das sei eine politische Stärke, die man im Vergleich zu anderen Parteien habe.

Außerdem habe das eigene politische Auftreten eine andere Glaubwürdigkeit – nicht nur in der parlamentarischen Arbeit, sondern auch langfristig. »Wie können wir die Leute von unserem politischen Projekt überzeugen, wenn wir es nicht einmal schaffen, sie vor einer Zwangsräumung zu bewahren?«, fragt er.

Am Freitag geht es telefonisch mit den Beratungen weiter. Jemand ruft an, weil sein Haus in Eigentumswohnungen umgewandelt werden soll, und fragt, was er tun kann. Das darauf folgende Telefonat führt Schenker im Taxi – auf dem Weg zu einer Linke-Konferenz, auf der die Gründung einer Landesarbeitsgruppe von »Die Linke hilft« beschlossen wird. Mit der Hilfesuchenden spricht er über die Möglichkeiten, eine anwaltliche Mieterberatung in Anspruch zu nehmen. Währenddessen schimpft der Taxifahrer über die AfD und über »die Politiker«. Es wirkt wie bestellt: »Die sprechen gar nicht mit einem, sondern nur zu einem herab«, beschwert er sich.

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