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Kanada: Phönix aus der Asche
Die liberale Partei ging aus den Wahlen Ende April als Sieger hervor – auch wegen der Entwicklungen im Nachbarland USA
Es war eine regelrechte Wiederauferstehung: Die Liberale Partei hat unter ihrem neuen Vorsitzenden, dem amtierenden Ministerpräsidenten Mark Carney, in der vergangenen Woche die Wahl des kanadischen Parlaments, des House of Commons, gewonnen. Anfang dieses Jahres galt das noch als ein Ding der Unmöglichkeit. Damals lag die Partei des seit 2015 regierenden Ministerpräsidenten Justin Trudeau mit über zwanzig Prozentpunkten Rückstand auf die Konservativen in der Wählergunst abgeschlagen auf dem zweiten Platz, nur knapp vor der linkssozialdemokratischen Neuen Demokratischen Partei (NDP). Doch ein Vierteljahr später ist alles anders. Wie konnte es dazu kommen?
Die Wahlanalysen sind sich im Wesentlichen einig, dass das liberale Comeback zwei Hauptursachen hatte: den Austausch des Ministerpräsidenten und den Beginn der Amtszeit Donald Trumps in den USA. Doch zunächst zum Wahlausgang im Einzelnen.
Die Liberale Partei gewann gegenüber der Parlamentswahl vor vier Jahren gut 11 Prozent hinzu und erzielte 43,7 Prozent. Mit 169 von 343 Abgeordneten verfehlte sie die absolute Mehrheit nur knapp. Die Konservative Partei legte im Vergleich zu 2021 ebenfalls kräftig zu. Plus 7,6 Prozent bedeuten 41,3 Prozent und 144 Abgeordnete.
Der große Wahlverlierer ist die linke NDP. Sie verlor fast zwei Drittel ihrer Wählerschaft; nach 17,8 Prozent der Stimmen 2021 reichte es diesmal nur zu enttäuschenden 6,3 Prozent und sieben Abgeordneten. Ihr Vorsitzender, Jagmeet Singh, erklärte noch am Wahlabend seinen Rücktritt.
Eine herbe Niederlage erlitt auch die rechtspopulistische Volkspartei, die nach 4,9 Prozent 2021 nur noch 0,7 Prozent erhielt. Verluste verzeichneten auch der ausschließlich in der französischsprachigen Provinz antretende Bloc Québécois (6,3 Prozent, minus 1,1) und die kleine Grüne Partei (1,3 Prozent, minus 1). Immerhin sind der Bloc Québécois mit 22 Abgeordneten und die Grünen mit einer Abgeordneten weiterhin im Parlament vertreten.
Von Trudeau zu Carney
Der Parlamentswahl waren dramatische Wochen vorausgegangen. Bis zum 20. Januar dieses Jahres schien der Wahlausgang festzustehen. Zu groß war die Enttäuschung über die Politik des langjährigen Ministerpräsidenten Trudeau, der viele seiner Versprechen gebrochen hatte. Insbesondere hatte er es versäumt, die wachsende soziale Ungleichheit einzudämmen und den ökologischen Herausforderungen zu begegnen.
Die Trudeau-Regierung hatte die Steuern für Reiche gesenkt und neue Öl- und Gasförderstätten mit Milliardensummen gefördert. Besonders lasteten ihm die Kanadier*innen an, dass es – insbesondere in den Städten – immer weniger bezahlbaren Wohnraum gibt. Unpopulär war auch seine Politik der Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland für den Niedriglohnsektor.
Im Ergebnis stieg die soziale Ungleichheit massiv an und die Zustimmungswerte für Trudeau fielen ins Bodenlose. Nach dem Rücktritt seiner Stellvertreterin, der Finanzministerin Chrystia Freeland, und einer Palastrevolution in den Reihen der liberalen Parlamentsfraktion, gab Trudeau schließlich Anfang Januar seine Ämter als Ministerpräsident und Parteivorsitzender auf.
Aus dem innerparteilichen Wettbewerb um seine Nachfolge ging Mark Carney als Sieger hervor. Der ehemalige Gouverneur der Zentralbank Kanadas, der später auch die Bank of England leitete, trat im März die Nachfolge Trudeaus an. Unmittelbar nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten setzte er den Termin für die vorgezogene Parlamentswahl fest, der von der Generalgouverneurin Mary Simon im Namen des britischen Königs Charles III., der auch das Staatsoberhaupt Kanadas ist, formal bestätigt wurde.
Trump, der Wahlhelfer wider Willen
Der Austausch der Partei- und Regierungsführung war eine Voraussetzung des Aufschwungs der Liberalen. Und dennoch dürfte die Konservative Partei das Rennen klar für sich entschieden haben, wäre nicht Donald Trump am 20. Januar ins Weiße Haus zurückgekehrt. Denn mit dem Tag seiner Amtseinführung begann eine Veränderung in der politischen Stimmung, wie sie Kanada noch nicht erlebt hat.
Dieser Umschwung lag an den beispiellosen Angriffen des US-Präsidenten auf die Wirtschaft und die Souveränität des nördlichen Nachbarstaates. Trump machte keinen Hehl daraus, dass er Kanada annektieren und zum 51. Bundesstaat der USA machen wolle. Wurde diese Ankündigung anfangs noch mit Humor aufgenommen, zeichnete sich rasch ab, dass Trump es überaus ernst meinte. Daraufhin nahm die kanadische Politik und Öffentlichkeit die Drohungen des US-Präsidenten als existenzielle Gefährdung wahr.
Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Beide Nationen sind seit Jahrzehnten enge Verbündete, ihre Ökonomien sehr stark miteinander verflochten. Unzählige Menschen und Güter überqueren jeden Tag die fast 9000 Kilometer lange Grenze. Mehr als 30 große Stromtrassen verbinden beide Länder, Kanada versorgt Millionen Haushalte in den USA mit Strom. Auch die Autoindustrie in Detroit wird in hohem Maße von kanadischen Zulieferern beliefert. Das – von Trump 2018 selbst verhandelte – Freihandelsabkommen (United States-Mexico-Canada Agreement) sicherte diese wirtschaftliche Kooperation ab.
Zur wirtschaftlichen Verflechtung hinzu kommt eine enge politische und militärische Zusammenarbeit. Konflikte wurden in der Vergangenheit immer auf diplomatischem Wege ausgeräumt.
Doch damit ist nun Schluss. Nachdem Trump in seiner ersten Amtszeit lediglich Zölle auf Stahl und Aluminium aus dem Nachbarland verhängt hatte, holt er jetzt zum Rundumschlag aus. Er will die Annexion Kanadas vor allem über wirtschaftlichen Druck erzwingen. Im Mittelpunkt steht dabei die Zollpolitik, die Kanadas Wirtschaft aufgrund des hohen Grads an wirtschaftlicher Verflechtung mit dem Nachbarn im Süden ins Mark treffen kann. Trumps Zollpolitik ist erratisch, zeitigt jedoch bereits jetzt reale Konsequenzen.
Unmittelbar nach seinem Amtsantritt unterzeichnete Trump zunächst eine Executive Order mit pauschalen Zöllen von 25 Prozent auf fast alle Warenimporte aus Kanada. Er begründete diesen Schritt mit Drogenschmuggel, illegaler Migration und einer angeblichen amerikanischen »Subvention« Kanadas in Höhe von 200 Milliarden US-Dollar jährlich. Alle drei Vorwürfe treffen indes nachweislich nicht zu: Lediglich ein winziger Bruchteil (0,2 Prozent) des in den USA konsumierten Fentanyls kam zuletzt aus Kanada, und nur 1,5 Prozent der an den US-Grenzen aufgehaltenen Migrant*innen reisten aus dem Norden ein. Die angebliche »Subvention« Kanadas schließlich ist in Wirklichkeit das Handelsdefizit der USA mit Kanada, und es beträgt auch nicht 200, sondern lediglich 41 Milliarden US-Dollar.
Zwei Tage später nahm Trump die pauschalen Zölle dann wieder zurück. Es folgte ein monatelanges Hin und Her. Auch wenn inzwischen die meisten Waren wieder zollfrei gehandelt werden, haben die nun gültigen Zölle auf Stahl- und Aluminiumprodukte sowie auf Autos und Autoteile in Höhe von 25 Prozent massive Konsequenzen für viele Kanadier*innen, die seitdem um ihre Arbeitsplätze fürchten.
Kanadische Selbstbehauptung
Die kanadische Öffentlichkeit reagierte entsetzt auf Trumps Zollpolitik und seine wiederholten Drohungen, das zweitgrößte Land der Welt annektieren zu wollen. In der Folge wurde Kanada von einer beispiellosen Welle des Patriotismus erfasst, die auch einen Boykott amerikanischer Waren beflügelte. Laut Umfragen wollen nicht einmal zehn Prozent der Bevölkerung, dass Kanada der 51. Bundesstaat der USA wird. Das sind kaum mehr als in Grönland, das Trump bekanntlich ebenfalls den USA einverleiben will.
Der Konflikt mit dem »großen Bruder« wirkte sich massiv auf die politische Gemengelage in Kanada aus. Sein erstes Opfer wurde Pierre Poilievre, der Vorsitzende und Spitzenkandidat der Konservativen. Er hatte die Partei in den vergangenen Jahren deutlich nach rechts verschoben. So unterstützte er etwa die Proteste der Lkw-Fahrer*innen, die im Januar 2022 die Hauptstadt Ottawa wegen der Covid-Politik belagerten. Vor allem aber hatte er den Trump-Fans in der Partei viel Raum gegeben. Was Poilievre bis Anfang des Jahres durchaus zu nützen schien, fiel ihm nach Trumps Amtsantritt auf die Füße.
Demgegenüber konnte der neue Ministerpräsident die Bürger*innen davon überzeugen, dass er der richtige Mann für die Auseinandersetzungen mit den USA ist. Carneys in Wort und Tat entschiedener Widerspruch zu Trumps Politik trieb ihm die Wähler*innen in Scharen zu.
Opfer der Polarisierung
Wenn man die Umfrageergebnisse aus dem Januar mit dem Wahlergebnis vom April vergleicht, sticht allerdings noch ein weiterer Faktor ins Auge. Denn auch wenn die Liberalen hinzugewonnen haben und die Konservativen schwächer sind als in den Umfragen: Beide großen Parteien haben massiv Stimmenanteile hinzugewonnen. Das liegt zuvörderst daran, dass Trumps Interventionen die politische Polarisierung auch in Kanada verschärften. Die Frage, welcher der beiden führenden Kandidaten eher geeignet sei, das Land durch diese Krise zu führen, rückte immer mehr in den Mittelpunkt. Das wiederum erwies sich als Nachteil für die kleineren Parteien, die durchweg Stimmenanteile einbüßten. Und da in Kanada nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt wird, verloren sie auch zahlreiche Mandate. Es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Trend in Richtung Zwei-Parteien-System fortsetzen wird.
Während die Konservativen in diesem Klima die meisten Wähler*innen der rechten Volkspartei für sich gewinnen konnten, entsprechen die 11,1 Prozent Zugewinne der Liberalen in etwa den 11,6 Prozent Verlusten der NDP. Viele frühere NDP-Wähler*innen dürften es mit ihrem Votum darauf abgesehen haben, die Konservativen von der Regierungsführung fernzuhalten.
Hinzu kommt indes ein weiterer Faktor: Denn die NDP hatte unter ihrem Parteivorsitzenden Singh nach der letzten Wahl eine Vereinbarung unterzeichnet, mit der sie die von den Liberalen geführte Minderheitsregierung bei Vertrauensabstimmungen stützte. Im Gegenzug erhielt sie die Zusage für die Umsetzung mehrerer ihrer Forderungen – vor allem den Ausbau des öffentlichen Gesundheitssystems, die Stärkung der Rechte der Gewerkschaften und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Dass die NDP damit den schon damals unpopulären Trudeau im Amt hielt, dürfte ihr bei dieser Wahl geschadet haben, auch wenn die Vereinbarung schließlich im September 2024 aufgekündigt wurde. Die Partei, die eng mit den Gewerkschaften verbunden ist und in mehreren Provinzen eine wichtige Rolle spielt, ist jedenfalls einstweilen erheblich geschwächt. Da sie aber weiterhin über eine breite Verankerung in der Gesellschaft verfügt, hat sie, wie weiland Die Linke, durchaus das Potenzial für ein Comeback.
Stefan Liebich leitet das Nordamerika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York.
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