Ukrainischer Vize­premier unter Korruptions­verdacht

Olexij Tschernyschow soll bei einem Immo­bi­lien­deal Geld unter­schlagen haben – Präsi­dent Selenskyj könnte ihn retten

Olexij Tschernyschow, Vizepremier und Minister für nationale Einheit, ist ein enger Vertrauter von Präsident Wolodymyr Selenskij. Das könnte ihn schützen.
Olexij Tschernyschow, Vizepremier und Minister für nationale Einheit, ist ein enger Vertrauter von Präsident Wolodymyr Selenskij. Das könnte ihn schützen.

Am Ende tat Olexij Tschernyschow, als sei nichts geschehen. Am Montagmorgen postete der ukrainische Vizepremier und Minister für nationale Einheit auf Facebook Bilder einer Kabinettssitzung. So weit normal und ziemlich unspannend.

Ganz im Gegensatz zu den vergangenen Tagen. Denn Tschernyschow kehrte von einer Dienstreise nach Tschechien nicht wie geplant in die Ukraine zurück. Dass mit Tschernyschow ausgerechnet der für die Rückkehr der vor dem Krieg ins Ausland geflüchteten Ukrainer verantwortliche Minister abtrünnig zu werden schien, rief vor allem im Netz Gelächter hervor. Zumal kurz zuvor bekannt geworden war, dass Olexandr Awramenko, einer der bekanntesten Verfechter und Aktivist der ukrainischen Sprache (und Wolodymyr Selenskyjs Ukrainisch-Lehrer), sich wahrscheinlich in Spanien aufhält. Die Witze über einen Exodus der Patrioten schrieben sich damit von selbst. Auch weil Tschernyschow am Wochenende Sohn und Ehefrau aus der Ukraine brachte.

Untersuchungen sollten schon vor einem Jahr stattfinden

Der Fall Tschernyschow steht exemplarisch für die Politik in der Ukraine. In der vergangenen Woche veröffentlichte die »Ukrajinska Prawda« eine Recherche, derzufolge der heutige Vizepremier Tschernyschow während seiner Zeit als Minister für die Regionen 2021/22 in einen Immobilienskandal verwickelt gewesen sein soll, der den ukrainischen Staat eine Milliarde Hrywnja (damals ungefähr 28,5 Millionen Euro) gekostet hat.

Bereits 2024 wollten das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption Tschernyschow deswegen genauer unter die Lupe nehmen. Doch die damals vom Gericht angeordneten Hausdurchsuchungen fanden bis heute nicht statt. Der Grund dafür könnte laut »Ukrajinska Prawda« Präsident Selenskyj sein. Beide sollen ein sehr enges Verhältnis pflegen. 2021 war Tschernyschow der einzige Minister, der während der Corona-Pandemie als Gast bei Selenskyjs Geburtstag anwesend war.

Ein weiterer Beweis für die Bande mit dem Präsidenten soll die Ernennung zum Minister für nationale Einheit sein, ein Posten, der extra für Tschernyschow geschaffen wurde. In den ersten Wochen habe niemand verstanden, was die Aufgabe des Ministeriums sei, außer sich mit ukrainischen Geflüchteten zu treffen. »Laut Aussagen der Teilnehmer verwandelten sich diese Treffen sehr schnell in staatliche Agitationstreffen«, zitiert die »Ukrajinska Prawda« eine Quelle. Auch zum Leiter des Präsidentenbüros, Andrij Jermak, soll Tschernyschow ein sehr enges Verhältnis haben.

Selenskyj sieht keinen Grund, gegen Minister vorzugehen

Wahrscheinlich auch angetrieben durch die Recherche der »Ukrajinska Prawda« kam vergangene Woche neue Bewegung in die Korruptionsermittlungen gegen Tschernyschow mit einer möglichen Anklageerhebung. Da der Minister nicht greifbar war, wurden zwei seiner früheren Ministeriumsmitarbeiter und heute engsten Berater verhaftet. Einer der beiden soll bei dem Versuch erwischt worden sein, sich aus der Ukraine abzusetzen.

Selenskyj Reaktion auf die Untersuchung der Behörden war vielsagend. Anstatt sich hinter die Ermittlungen zu stellen, erließ der Präsident über den Nationalen Sicherheitsrat Sanktionen gegen Geschäftspartner des »Ukrajinska Prawda«-Besitzers Tomáš Fiala. Dies sei als letzte Warnung an den Tschechen zu verstehen, glauben ukrainische Medien. Sollte er sich weiter über die »Ukrajinska Prawda« kritisch in die Politik einmischen, könnte der Geschäftsmann selbst zum Ziel von Sanktionen werden und damit seine Lebensgrundlage verlieren.

Selenskyj soll Medienangaben zufolge über die Ermittlungen gegen Tschernyschow und die Aufmerksamkeit, die der Fall verursacht, sehr verärgert sein. Auch weil es den engsten Kreis des Präsidenten betrifft, der sich zumindest im Ausland gerne als Korruptionsbekämpfer gibt. Selenskyj kann sich dieses Mal nicht einfach aus der Affäre ziehen und seine Hände in Unschuld waschen.

Präsidentenbüro könnte Ermittlungen ins Leere laufen lassen

Mehrere ukrainische Medien schreiben, dass Selenskyj versucht, den Fall Tschernyschow nicht allzu groß werden zu lassen, um auch selbst keinen Schaden zu nehmen. Das Nachrichtenportal »Strand« mutmaßt, der Präsident könnte seinem Minister den Befehl zur Rückkehr nach Kiew erteilt haben, um sein Image zu schützen. Ein geflohener Minister wäre ein herber Schlag. Nach außen kann Selenskyj zumindest diesen Erfolg verbuchen. Unter Vermittlung eines Vertrauten kehrte Tschernyschow in die Ukraine zurück.

Am Montag gab er sich betont gelassen. Es habe »viele Gerüchte um einen Prozess gegen mich« gegeben, schrieb er bei Facebook. Er sei zurückgekommen, »um die Situation zu klären«, und sei deshalb persönlich bei den Antikorruptionsermittlern vorstellig geworden, so der Minister, der mit den Worten schloss, er respektiere die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden.

Wie viel diese Worte wert sind, wird sich noch zeigen. Unbestätigten Berichten zufolge könnte sich die Präsidentenverwaltung bemühen, den Prozess im Sande verlaufen zu lassen, etwa indem die Untersuchung an das staatliche Untersuchungsbüro übergeben wird, das Selenskyjs Büro untersteht.

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