Fanatisch bis zuletzt

Warum an jedem ersten Sonntag nach dem 9. Mai auf der griechischen Insel Milos gefeiert wird

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 5 Min.
Griechische Partisanen
Griechische Partisanen

Am Abend des 9. Mai 1945 sendet der »Reichssender Flensburg« den letzten Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht. »Noch gestern« sei bis zuletzt in Ostpreußen »tapfer verteidigt« worden, tönt es aus den Lautsprechern. »Unvergänglicher Ruhm« sei in sechs Schlachten erworben, eine »vorzeitige Übergabe« abgelehnt worden. Dann richtet sich der Blick in den Süden und Norden Europas: »Fern der Heimat haben die Verteidiger der Atlantik-Stützpunkte«, tönt es weiter, »unsere Truppen in Norwegen, und die Besatzungen der Ägäischen Inseln in Gehorsam und Disziplin die Waffenehre des deutschen Soldaten gewahrt.«

Als Befreiungsmonat Griechenlands gilt im Allgemeinen der Oktober 1944. Am 18. Oktober 1944 war Athen befreit, am 30. Oktober folgte Thessaloniki. Doch in einigen griechischen Regionen verharren deutsche Soldaten noch mehr als sechs Monate aus und verteidigen »die Waffenehre« für die »Führer«, die sich bereits aus dem Staub gemacht haben. Auf Westkreta, Kos, Leros, Rhodos, kleineren Inseln wie Tilos und eben auch auf Milos bleiben deutsche Soldaten bis zur bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. Die Kykladeninsel Milos war am 9. Mai 1941 besetzt worden. Seit Sommer 1943 zur Festung ausgebaut, wurde sie bis zum 9. Mai 1945 hartnäckig gegen englische Truppen und griechische Widerstandskämpfer verteidigt. Sinnlose Pulverdämpfe, Leid, Angst und Terror, ungezählte Tote.

Vor 30 Jahren erschien posthum der Report von Yiannis Michail Chalkoutsakis, ein Bericht aus erster Hand, eine dichte Chronik: »Milos unter der Besatzung«. Der Verfasser war Soldat und schließlich Oberstleutnant, 1913 auf Milos geboren, 1993 in Athen gestorben. Er ließ sich während der Besatzung auf seiner Heimatinsel in einem Büro anstellen, in dem die Befestigungsanlagen für die deutschen Eroberer geplant und organisiert wurden. So gelangte er an genaue Lagepläne, sammelte Informationen, gab sie weiter an den militärischen Widerstand. 1944 schloss er sich der »Heiligen Brigade«, Ieros Lochos, einer griechischen Partisanengruppe, an.

Die Kykladeninsel liegt auf halbem Weg zwischen Piräus und Kreta, strategisch bedeutsam für die Kriegsführung der Deutschen, als Brückenkopf, Zwischenstation und Versorgungsbasis für Flugzeuge und Schiffe. Im Februar/März 1943 bringt die Niederlage bei Stalingrad die Wende im Eroberungskrieg der Deutschen. Am 18. Februar 1943 hält Propagandaminister Goebbels seine berüchtigte Rede im Berliner Sportpalast: »Wollt ihr den totalen Krieg?«

Ende Juni 1943 führen die Deutschen auf Milos eine Volkszählung durch, alle Männer im Alter von 18 bis 55 Jahren werden registriert; danach haben mehr als 500 Männer Zwangsarbeit zu leisten, hinzu kommen 35 Frauen. Milos wird zur Festung ausgebaut: Radaranlagen, Bunker, Schützengräben, Minenfelder, Flugabwehrgeschütze, Artillerie. Ruinen dieser Bauten sind heute noch über die gesamte Insel verstreut zu finden. »Zum Glück für Milos«, schreibt Chalkoutsakis, »kam die echte Gestapo nie.« Zu Massakern wie auf Kreta beispielsweise kommt es auf Milos nicht.

Doch spätestens ab Mitte 1943 wird Milos Kriegsgebiet. Im Herbst häufen sich die Bombardements, alle Wege auf der Insel sind überwacht, Stacheldraht und Minenfelder sichern die stationierten deutschen Soldaten. Um die Jahreswende 1943/44 wird im Südwesten der Insel eine Radarstation installiert: Topakas. In den Briefen des deutschen Stabsarztes Hans Löber flammt etwas vom Leiden und Sterben dort auf. »In dieser Woche eine wüste Schießerei«, schreibt Löber Mitte Januar 1944, »vier Griechen verwundet, einer so schwer, dass er nach einem Tag gestorben ist.« Ende Juli heißt es: »Viele Verwundete …, oft in trostlosem Zustand … Gestern … lief ein Grieche in ein Minenfeld und der linke Unterschenkel wurde ihm abgerissen. Ich habe sofort amputiert.«

Im August 1944 werden die meisten deutschen Soldaten von Milos nach Paros evakuiert. Doch rund 600 bleiben auf der Insel hängen, weil die Transportwege nicht mehr funktionieren. Im Herbst 1944 werden die Bombardierungen heftiger. Ende September schreibt der deutsche Stabsarzt Löber: »Viele Verwundete, meistens sogar recht schwer Verwundete …, alleine drei Mann die von mir amputiert werden mussten … Es waren wirklich unruhige Wochen. … Dazu lagen wir unter Artilleriebeschuss von See, unter Bomben aus der Luft und Bordwaffenbeschuss von Tieffliegern.«

Im September 1944 beginnen die Deutschen, Befestigungen zu sprengen. Im Oktober 1944 beraten sich in Moskau Stalin und Churchill über die Zukunft der Länder Ostmittel- und Südosteuropas. Churchill erklärt, weitgehend auf den Einfluss in Bulgarien und Rumänien verzichten zu wollen, im Gegenzug verzichtet die Sowjetunion auf Einfluss in Griechenland. Britische Flugzeuge werfen eine Proklamation über Milos ab, in der die deutschen Soldaten zur Kapitulation aufgerufen werden. Fanatische deutsche Befehlshaber lehnen das Angebot ab.

Mitte November 1944 versuchen britische Soldaten die Radarstation im Südwesten der Insel, Topakas, zu stürmen. Vier britische Soldaten sterben, der Angriff wird abgebrochen. Drei Tage später sprengen die Deutschen die Station und ziehen sich ins Innere der Insel, nach Kaminia, zurück. Es kommt zu Attentaten von griechischen Widerständlern, auch Löber kommt ums Leben.

Mitte Januar 1945 wird die Flugabwehrstellung in der Bucht von Milos (Korfou) bombardiert und zu Monatsende von den Deutschen aufgegeben. Ein Munitionsdepot explodiert, es sollen dabei 80 deutsche Soldaten gestorben sein. Doch noch Ende April 1945 lässt der deutsche Befehlshaber auf der Insel, Georg Knauer, eine Proklamation verteilen, in der deutschen Überläufern und griechischen Helfern drakonische Strafen in Aussicht gestellt werden. Zur Belohnung wird der fanatische Nazi am Ostersonntag, dem 6. Mai, zum Major befördert.

Erst nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht in Berlin-Karlshorst schweigen auch auf Milos die Waffen, was seit 2004 an jedem ersten Sonntag nach dem 9. Mai auf dieser griechischen Insel gefeiert wird.

Lektüretipp: Gerhard Paul: Mai 1945. Das absurde Ende des »Dritten Reiches«. Wie und wo die Nazi-Herrschaft wirklich ihr Ende fand. Theiss-Verlag, 336 S., geb., 28 €.

Auch auf Milos schwiegen die Waffen erst nach der Kapitulation in Berlin-Karlshorst.

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