Allzu schönes Frühlingswetter

Für Sheila Mysorekar kommt der Sommer in Deutschland mittlerweile zu früh

Ungewöhnlich gutes Wetter beim diesjährigen Rosenmontagsumzug in Köln
Ungewöhnlich gutes Wetter beim diesjährigen Rosenmontagsumzug in Köln

Das vergangene Wochenende habe ich hauptsächlich auf dem Balkon in der Sonne verbracht. Die Pflanzen sprießen, die Blumen blühen, und durch all die Sonnentage habe ich das Gefühl, schon mitten im Sommer zu sein. Und nicht erst seit jetzt: An Karneval – Ende Februar! – saß ich mit vielen verkleideten Leuten im Park; Musik spielte, der Himmel war knallblau und die Sonnenstrahlen wärmten uns, einfach wundervoll.

Das ist nicht normal. Ich lebe im Rheinland, nicht in Rio. Ich kann mich an keinen Karneval in meiner Kindheit erinnern, wo man im Park in der Sonne hätte sitzen können. Aber jetzt geht das.

Karneval ist am Ende des Winters. Zur Erinnerung: Das ist die kälteste Jahreszeit. An Karneval friert man und trägt trotzdem heroisch ein Elfenkostüm aus dünnem Glitter, was im eiskalten Wind flattert – das ist normal! Nach Karneval hat man immer Blasenentzündung und Grippe. Also normalerweise. Bevor der Frühsommer auf Ende Februar verlegt wurde.

Auf Social Media folge ich verschiedenen Wissenschaftler*innen und Instituten, die sich mit Klimawandel beschäftigen. Täglich posten sie aktuelle Messungen, die sich allesamt im roten Bereich befinden. Im dunkelroten Bereich. Praktisch jeden einzelnen Tag schlagen Meteorolog*innen Alarm, in sämtlichen Teilen der Welt. Voriges Wochenende – welches ich auf meinem frühsommerlichen Balkon verbracht habe – sind in 150 Ländern weltweit Temperaturrekorde gebrochen worden, unter anderem in Indonesien, Turkmenistan, Bolivien, Australien, Zypern, Südafrika, Algerien, Paraguay, Iran und im US-amerikanischen Alaska. Also einfach überall. In Sibirien ist es dieser Tage 33 Grad, und es ist nicht mal Sommer. In Sibirien!

Sheila Mysorekar

Sheila Mysorekar ist Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem Netzwerk postmigrantischer Organisationen. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Schwarz auf Weiß«. Darin übt sie Medienkritik zu aktuellen Debatten in einer Einwanderungsgesellschaft.

Haben Sie die Riesenschlagzeile bei »Bild« gesehen: »Klimakatastrophe!!! Sibirien glüht!« Nein? Ich auch nicht. Weil solche Nachrichten nie große Schlagzeilen bekommen.

Die neue Bundesregierung war noch keinen Tag im Amt, da hatte sie schon die Sonderbeauftragten für Meeresschutz und internationale Klimapolitik abgeschafft. Dies rief jedoch keine aufgeregte Berichterstattung hervor, sondern bekam ein Achselzucken, so wie vieles, was unser Überleben auf diesem Planeten angeht. Doch die Ignoranz der neuen Regierung gegenüber der Klimakatastrophe wird uns teuer zu stehen kommen.

Die Temperaturen der Ozeane haben 2024 alle Rekorde gebrochen. Laut dem EU-Erdbeobachtungsprogramm Copernicus stieg nicht nur die Erderwärmung seit Anfang dieses Jahres so rapide und so hoch wie nie zuvor, sondern auch die Ozeane sind so warm wie nie – sowohl die Oberflächentemperatur als auch in der Tiefe. Die Tagesschau berichtet von »Todeszonen«, wo dann im Meer kein Leben mehr möglich ist.

Solche Artikel sind informativ und erwähnen auch, dass die Wissenschaft alarmiert sei, aber der Ton ist ruhig und sachlich, und – anders als die Wissenschaftler*innen – keineswegs alarmiert. Kein Appell an Politik oder Bürger*innen, dass wir Jetzt! Sofort! Unverzüglich! alles tun müssen, um diesen Ritt in den Abgrund zu bremsen. Fakten werden nüchtern konstatiert, jedoch ohne den Schluss daraus zu ziehen, der logischerweise gezogen werden muss. Wieso denken Journalist*innen, dass sie das nichts angeht? Wohnen sie auf einem anderen Planeten als wir?

Woanders ergreifen Regierungen bereits Maßnahmen – nicht etwa gegen den Klimawandel, sondern gegen Klimaaktivist*innen. Das öffentliche Radio in den USA berichtet, dass neuerdings das FBI Leute aufsucht, die sich für Klimaschutzmaßnahmen stark machen. Offensichtlich ein Einschüchterungsversuch. Die Trump-Regierung baut vor, damit Klimaschützer*innen bloß nicht auf die Idee kommen, das gesamte System in Frage zu stellen.

Nicht nur in den USA – selbst bei uns wurde darüber diskutiert, die »Letzte Generation« als terroristische Vereinigung einzustufen, während rechte Gruppen lange als »Verdachtsfälle« beobachtet werden.

Wo sind die Journalist*innen, die all das in den größeren Kontext einordnen? Haben sie Angst, das Unvermeidliche auszusprechen, weil die Dimension zu groß ist? Vielleicht auch, weil es eine Infragestellung des Kapitalismus nach sich zieht, wenn man Klimaschutz ernst nimmt? »Die reichsten zehn Prozent sind für zwei Drittel der Erderwärmung verantwortlich«, schreibt der »Spiegel«. Wiederum ein sachlicher Artikel, der eine Studie zitiert, aber die offensichtlichen Schlüsse werden nicht gezogen: Enteignung, Umverteilung, Antikapitalismus. Wir müssen endlich aussprechen, worum es geht: Schluss mit dem kapitalistischen System – für unser aller Überleben.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.