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- Stichwahl in Nordhrein-Westfalen
NRW-Kommunalwahlen mit diskriminierungsfreien Saufliedern
Sheila Mysorekar ärgert sich über die Berichterstattung zur Kommunalwahl in NRW
Das hätten wir doch alle mal feiern können: Kommunalwahlen in NRW, und die Nazis bleiben vor der Tür. Bäm! So geht Demokratie! Aber nein, deutsche Medien bleiben weiterhin bei ihrer Leier: Oje oje, jetzt kommt die AfD! Auch wenn es diesmal gar nicht stimmt.
In Nordrhein-Westfalen gibt es rund 18 Millionen Einwohner*innen. In ganz Ostdeutschland – immerhin fünf Bundesländer! – leben nur 12,4 Millionen; das sind weniger Menschen als es in NRW Wahlberechtigte gibt, nämlich 13 Millionen. Da könnte man also annehmen, dass die deutschen Medien Wahlverhalten und politische Trends in NRW genauer betrachten als irgendwelche leergefegte Landstriche, wo nur noch ein paar Alte übrig sind. Aber nein, das Gegenteil ist der Fall: Jeder Pups der AfD in einem völlig irrelevanten Dorf in Sachsen hat Nachrichtenwert, aber die Tatsache, dass das größte und bevölkerungsreichste Bundesland stabil demokratisch ist, wird irgendwie übersehen. (Verzeihung, sehr unprofessionell, sich so aufzuregen. Aber es ärgert mich halt. Menno!)
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Die Ergebnisse der Kommunalwahlen in NRW zeigten in aller Klarheit, dass wir an Rhein und Ruhr die Demokratie super finden. Es hätte Schlagzeilen hageln sollen, uns dafür zu feiern, sowas wie: »Im größten Bundesland Deutschlands haben Nazis in der Politik nichts zu melden!« Wo bitte steht diese Schlagzeile? Oder: »Faschisten gewinnen nicht mal ein einziges mickriges Rathaus, und das in einem Bundesland mit drei Millionen Ausländern, also mehr Ausländer als in Thüringen überhaupt Leute wohnen, denn Rassismus finden wir Scheiße!« Aber nirgendwo stand sowas, nix, nada, niente.
Im Gegenteil klang es so, als ob nur eine einzige Partei in NRW tonangebend sei. Hier eine Auswahl von Überschriften: »Ergebnis bei NRW-Wahl verdreifacht – wie stark wird die AfD noch?« (»Bild«); »Die blaue AfD-Megawelle blieb aus« (WDR); »Nur ein Thema machte die AfD so stark« (nochmal »Bild«), wobei natürlich das Thema Einwanderung gemeint war. Lustigerweise lieferte die »Bild«-Zeitung unwillkürlich eine wirklich gute Analyse dazu: »Nordrhein-Westfalen ist durch Zuwanderung geprägt: Mehr als jeder Vierte in dem Bundesland hat ausländische Wurzeln. Insgesamt: 5,1 Millionen Menschen. CDU-Ministerpräsident Henrik Wüst betont immer wieder: NRW ist ein Einwanderungsland. ›Wir wollen und brauchen Zuwanderung‹. Die AfD will genau das Gegenteil – und hat damit einen Nerv getroffen.« Also, sie trifft vielleicht den Nerv der Springer-Journalisten, nicht aber vom Wahlvolk in NRW, das eben nicht – ich wiederhole: nicht – die AfD gewählt hat.
Sie hat zwar mehr Stimmen bekommen als vorher – hat sich also von »ganz wenig« zu »recht wenig« verbessert –, aber nirgendwo stellt sie auch nur einen Dorfbürgermeister. Und bei den vergangenen Bundestagswahlen hat sie in NRW keinen einzigen Wahlkreis gewonnen.
Sheila Mysorekar ist Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem Netzwerk postmigrantischer Organisationen. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Schwarz auf Weiß«. Darin übt sie Medienkritik zu aktuellen Debatten in einer Einwanderungsgesellschaft.
Dabei sind weite Teile des Ruhrgebiets wirklich arm und abgehängt. Schlaglöcher in den Straßen, kaputte Infrastruktur, heruntergekommene Häuser, hohe Arbeitslosigkeit. Das heißt, der direkte Zusammenhang zwischen »abgehängt sein« und »Nazis wählen«, der gerne als Erklärung für rechtsextremes Wahlverhalten anderswo herangezogen wird, ist anscheinend nicht allgemeingültig.
Auch hier würde ich von professionell arbeitenden Medienhäusern erwarten, dass sie mal die Malocher und Verkäuferinnen und Arbeitslosen und Künstlerinnen fragen: »Wie schafft ihr das eigentlich – wenig zu verdienen, viele Sorgen zu haben und trotzdem stabil demokratisch zu bleiben?« Denn von den Antworten auf diese Frage könnten wir alle eine Menge lernen.
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Aber was geschieht? Das Gegenteil. Alle Journalist*innen rennen zu den wenigen Orten, wo die AfD tatsächlich viel zugelegt hat, also Gelsenkirchen und Hagen, um da zu fragen: »Ihr armen Nazi-Wähler, was sind eure Nöte, die ihr nun in die Hände der AfD gelegt habt?«
Ein Lichtblick war die Analyse von Johannes Schneider in der »Zeit«, der mit Sachkenntnis darlegte, wie im Rheinland regionale Diskurse verlaufen, die Bedeutung von »sozialpädagogischem Saufliedergut« im Karneval kennt und weiß, wie wichtig es ist, »den Kampf gegen die AfD offensiv (zu) führen, mit klaren Bekenntnissen zur offenen Gesellschaft«. Genau darum geht es. Unsere Geheimwaffe dabei: antirassistische Sauflieder grölen. Wir bleiben dran.
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