»Der Galileo hat mich fasziniert«

Die Eltern von Sinan Akis sind Analphabeten. Ein Gespräch darüber, wie er zum Medizinstudium kam

  • Interview: Ines Wallrodt
  • Lesedauer: 8 Min.
Bildung – »Der Galileo hat mich fasziniert«

Sie studieren Medizin. Das war Ihnen nicht in die Wiege gelegt. Wie kam es dazu?

Tatsächlich gar nicht. Meine Eltern sind Anfang der 90er Jahre nach Deutschland geflohen, weil sie als politisch aktive Kurden verfolgt wurden. Sie kommen aus einem Dorf im Osten der Türkei und haben nur wenige Jahre die Schule besucht. Sie sind Analphabeten. Meine Mutter hat als Kind Baumwolle gepflückt, für ganz, ganz wenig Geld. Ich hatte in der Schule also keine direkte fachliche Unterstützung von ihnen. Aber bei allem anderen. Meine Eltern und Geschwister – wir sind sechs – waren immer für mich da und haben alles für mich getan. Meine Eltern haben sehr viel Wert auf Bildung gelegt. Sie waren immer der Meinung, dass wir studieren sollten.

Woher kam das?

Weil sie es selbst nicht hatten, wollten sie für uns ein besseres Leben haben. Sie hatten dabei immer die klassischen Berufsbilder im Kopf: Jura, Medizin und so was. Meinen Vater habe ich selten zu Gesicht bekommen als Kind, weil er sowohl aktivistisch als auch beruflich immer voll eingespannt war. Wir hatten einen Döner-Pizza-Imbiss. Mein Vater ist morgens rausgegangen und kam erst irgendwann so gegen 24 Uhr wieder nach Hause. Das war der Alltag.

Interview

Sinan Akis ist 27 Jahre alt und lebt im Saar­land, wo er nach seinem Studium der Humanmedizin auch als Neuro­chirurg arbeiten möchte. Er ist Sprecher der Stipendiat*innen der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Neben der Geige ist die Imkerei sein langjähriges Hobby.

Wie lief es in der Schule?

An der Grundschule eigentlich ganz okay. Ich war richtig gut in Mathe, mein Problem war einfach immer das Fach Deutsch. Wenn man zu Hause kein Deutsch spricht und nicht vorgelesen bekommt, liest man auch keine deutschen Bücher selbst. Als es dann Ende der 4. Klasse um die Frage ging, ob ich aufs Gymnasium kann, hat sich mein großer Bruder für mich starkgemacht. Aber da hat meine Klassenlehrerin nur gelacht und abgewunken. Und ich bin dann auf die Realschule gekommen. Aber obwohl da meine Leistungen schon deutlich besser waren, kam keiner auf die Idee, irgendwie zu sagen, der soll aufs Gymnasium wechseln.

Hat Sie das frustriert oder wütend gemacht?

Ich habe das gar nicht so stark empfunden. Hab das eher so hingenommen. Es gibt eine Geschichte aus der Grundschule, die für mich stellvertretend dafür steht, wie ich gesehen wurde: Einmal war bei einigen Mitschülern Essen aus dem Rucksack verschwunden. Relativ schnell war ich der Verdächtige, dabei habe ich keinen Anhaltspunkt dafür gegeben, weil ich es halt nicht war. Damals dachte ich mir nichts weiter dabei, aber rückblickend denke ich schon, dass dieses Ressentiment gegenüber mir einfach da war. Ich war halt der Einzige mit Migrationshintergrund in der Klasse. Und eigentlich hätte meine Klassenlehrerin durch meine Leistungen in allen anderen Fächern als Deutsch wissen müssen, dass da Potenzial ist.

Wie haben Sie dann das Abitur gemacht?

Ich bin dann doch noch aufs Gymnasium gekommen. Aber das ging auf das Bestreben meiner großen Schwester zurück, die auch auf meiner Realschule war. Die hat mit meiner Klassenlehrerin gesprochen, ob sie noch mal im Kollegium beraten könnten. Und die haben wohl doch ein bisschen Potenzial gesehen und die Empfehlung ausgesprochen.

War es eine große Umstellung?

Ich war erst mal wirklich heillos überfordert. Bis zur 10. Klasse ungefähr war es immer ein Kampf. Wir leben ja hier im Saarland, deswegen hatten wir automatisch Französisch als Unterrichtsfach. Ich komme da so von der Realschule mit »Salut, ça va?«. Aber im Gymnasium ging es dann so richtig los. Im Unterricht wurde nur noch Französisch gesprochen. Das war ein ganz anderes Niveau. Auch in Mathe. Da hatte ich bis dahin Division und Multiplikation, jetzt war Algebra angesagt. Der Unterschied zwischen Realschule und Gymnasium war richtig groß. Da reicht Potenzial nicht, da mussten Leute schon ein bisschen supporten.

Und haben Sie auch mal von anderen Instanzen als den Geschwistern Unterstützung bekommen?

Die kam erst später, meine Familie war weiterhin die einzige Quelle. Irgendwann in der 8. Klasse wurde das Medizinstudium ein Traum von mir selbst. Dieses Ziel lag aber in weiter Ferne, denn mir war bekannt, welche Leistung man dafür erbringen musste. Es war eine nette Vision, in etwa so, wie man sich als Kind wünscht, irgendwann Millionär zu werden – etwas Unrealistisches. Aber dann ging es halt los, dass ich mich wirklich angestrengt habe, damit meine Zensuren besser werden. Ich hab so richtig Gas gegeben. Plötzlich wurde mein Problemfach zu einem meiner Lieblingsfächer. Die Bücher, die man für den Deutschunterricht gelesen hat, habe ich wirklich verschlungen.

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Welche denn zum Beispiel?

»Wilhelm Tell« oder Bertolt Brecht, »Leben des Galilei«. Das war mein absolutes Lieblingsbuch.

Was hat Ihnen daran so gefallen?

Also den »Galileo« habe ich faszinierend gefunden, weil er bei seinem Standpunkt bleibt, sich dem Zeitgeist widersetzt und bis zum Ende kämpft. Ab der 9. oder 10. Klasse wurde Deutsch wirklich meine Leidenschaft, in Kombination mit Geschichte und Politik. Das hat auch mit zwei Lehrern zu tun, die mich unterstützt haben. Die haben mir auch das Empfehlungsschreiben für mein Studienstipendium geschrieben. Das waren zwei echt gute Menschen. Die haben mich richtig motiviert.

Wodurch?

Es gab da zwei Momente. In der ersten Deutscharbeit in der 11. Klasse hatte ich eine 2, 11 Punkte. Da war für mich schon absolute Partystimmung, obwohl es für das Medizinstudium noch lange nicht ausreichte. Mein Deutschlehrer hat mir dazu gesagt, dass er überrascht sei, dass ich so viele Grammatik- und Rechtschreibfehler mache, weil das gar nicht zu dem passt, was er von mir aus dem Unterricht kennt. Parallel dazu – weiß ich noch -, dass mir die Lehrerin im Fach Darstellendes Spiel, wo man auch Klausuren über Kunst und Theater schreiben musste, den Satz darunter geschrieben hat, dass der Text orthografisch in keiner Weise den Inhalt widerspiegelt. Dass zwei Menschen, die ich sehr respektiert habe, mir das in dieser Form gesagt haben, hat etwas in mir bewegt. Sie haben mir klargemacht, dass ich mehr kann, indem sie mir mitteilten, dass sie mehr in mir sahen. Das hat dazu geführt, dass ich sehr, sehr viel Arbeit reingesteckt habe. Ich habe ganz viele zusätzliche Aufsätze geschrieben und abgegeben, die angestrichenen Fehler habe ich korrigiert, immer wieder. Es kam nicht mehr infrage, ein unsicheres Komma auf gut Glück zu setzen oder ein unbekanntes Wort zu schreiben, ich musste im Duden alles nachschlagen, um es genau zu wissen. Ich habe diesen beiden Menschen viel zu verdanken.

Haben Sie sich wohlgefühlt am Gymnasium, haben Sie da Freunde gehabt?

Das wurde mit den Jahren immer besser, aber am Anfang habe ich mich immer ein bisschen außenstehend gesehen. Ich war irgendwie anders sozialisiert. Aber das hat sich mit den Jahren erledigt, weil ich mich auch so ein bisschen assimiliert habe.

Und jetzt an der Uni?

Also am Gymnasium war ja schon, ich sag mal, gehoben im Vergleich zur Real- und Grundschule. Aber an der Uniklinik ist es noch mal ganz anders. Ich habe da mal einen jungen Mann kennengelernt, irgendwann kamen wir auf unseren familiären Hintergrund. Er hat so gesagt: Ja, mein Vater ist halt Professor und meine Mutter ist – ich glaube – Doktor der Soziologie. Da habe ich nur entgegnet, dass meine Eltern bildungsfern seien, um nicht zu sagen Analphabeten.

Schämen Sie sich zu sagen, meine Eltern sind Analphabeten?

Das hat sich mit den Jahren krass geändert. Früher war es einem peinlich. Aber mit den Kenntnissen über diese ganzen strukturellen Probleme und Chancenungleichheit weiß ich, dass es nichts zu verheimlichen gibt. Natürlich wird man auch deswegen diskriminiert; aber auf der anderen Seite gibt es viel Anerkennung und Lob für meinen Lebensweg, dafür bin ich dankbar und das macht einem Mut.

Bestätigen Sie mit Ihrer Geschichte die Ansicht: Jeder ist seines Glückes eigener Schmied, man muss sich nur ordentlich anstrengen?

Für die FDP bestimmt. Aber auf der individuellen Ebene kommt man nicht weiter. Die Zahlen sprechen ja eine ganz klare Sprache. Nichts bestimmt deinen Lebensweg so wie die Herkunft deiner Eltern. Das erkläre ich auch den Menschen, die wie ich aufgewachsen sind. Dass es strukturelle Gründe sind, die sie zurückgehalten haben. Das ist vielen selbst nicht bewusst, die denken auch, es liegt in deiner Hand, und ich bin ein Versager. Da fehlt halt die Bildung auch.

Hat Sie Ihre Herkunft politisiert?

Vor allem der Politikunterricht in der Schule hat mich zu einem politischen Menschen gemacht. Zum ersten Mal habe ich gelernt, wie sehr der finanzielle Hintergrund den Lebensweg bestimmt, und konnte mir nun viele Erfahrungen aus meinem Leben erklären. Aber auch im Alltag, weil man gerade in seiner Kindheit als Kurde oft damit konfrontiert wird, dass man staatenlos ist. Da macht man sich dann durchaus Gedanken darüber.

Ist der Kampf der Kurden für Sie persönlich weiterhin wichtig?

Klar, das ist für mich ein entscheidendes Thema, das mich auch mit der Linkspartei verbunden hat, weil sie die einzige war, die sich wirklich glaubhaft für die Kurden in Deutschland starkgemacht hat. Aber mein Kernthema ist die soziale Frage in Deutschland, wie man mit den kleinen Leuten umgeht, mit Minderheiten. Alle Menschen sollen die gleichen Chancen haben, ihr Potenzial auszuschöpfen.

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