Gar nicht so geheim

Das Gutachten des Verfassungsschutzes enthält wenig Neues. Es soll vor Gericht bestehen

Die Herabwürdigung von Migrant*innen ist ein zentraler Vorwurf des Verfassungsschutzes gegen die AfD.
Die Herabwürdigung von Migrant*innen ist ein zentraler Vorwurf des Verfassungsschutzes gegen die AfD.

Wer wie Tausende Menschen die am vergangenen Sonntag auf die Straße gegangen und für ein zügiges Verbot der AfD ist, wird ernüchtert davon sein, was Bundeskanzler Friedrich Merz der »Zeit« verlauten ließ. »Das riecht mir zu sehr nach politischer Konkurrentenbeseitigung«, sagte Merz über ein mögliches Verbotsverfahren. Ex-Innenministerin Faeser warf der Kanzler vor, dass das Gutachten des Verfassungsschutzes nicht im Innenministerium geprüft worden sei. Dies werde man jetzt nachholen, was Monate dauern kann. Beschäftigen will sich der Kanzler mit dem Bericht des Inlandsgeheimdienstes bis dahin nicht. »Ich kenne den Inhalt dieses Berichtes nicht, ich will ihn ehrlich gesagt auch nicht kennenlernen, bevor nicht das Bundesinnenministerium daraus eine Bewertung abgeleitet hat«, so Merz zur »Zeit«.

Dabei ist der Bericht des Verfassungsschutzes seit vergangenen Dienstag allen zugänglich, die ihn lesen wollen. Kurz nacheinander hatten »Cicero«, die neurechte »Junge Freiheit« und Julian Reichelts »Nius« das Gutachten auf ihren Internetseiten veröffentlicht. Dass ausgerechnet drei rechte Medien den Bericht über die AfD veröffentlichten, mag auf den ersten Blick überraschen. Auf den zweiten tut es das allerdings nicht. Sie boten jeweils Deutungen an, mit denen die AfD verharmlost wurde. Im »Cicero« versucht Mathias Brodkorb die Einschätzungen des Verfassungsschutzes als eine eigene Art von Verschwörungstheorie abzutun. Die »Junge Freiheit« zitiert Juristen aus dem Umfeld der AfD, die Aussagen im Gutachten des Verfassungsschutzes als »irrelevant« abtun. Und bei »Nius« hat man, ganz Boulevardmedium, gleich die »absurdesten Beispiele« aus dem Gutachten aufgelistet.

Dass sich die rechten Medien auf scheinbar harmlose Beispiele stürzen können, liegt daran, wie der Verfassungsschutz in dem Gutachten arbeitet. Er orientiert sich stark an den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Köln und des Oberverwaltungsgerichts Münster. Weil das Bundesamt für Verfassungsschutz seinen Hauptsitz in Köln hat, hatten die beiden nordrhein-westfälischen Gerichte die Einstufung der AfD als Verdachtsfall zu prüfen. Vor knapp einem Jahr entschied das Gericht in Münster, dass die Einstufung der AfD als Verdachtsfall rechtmäßig war, machte aber auch klar, welche Bewertungskriterien es an Aussagen aus der Partei stellt. Wichtig dabei: die Kontinuität und Durchdringung von Standpunkten in der gesamten Partei.

Besonders deutlich sieht das der Verfassungsschutz beim Prinzip der Menschenwürde, das die AfD aus seiner Sicht auf mehreren Ebenen verletzt. Zuvorderst nennt er den ethnisch-kulturellen Volksbegriff der Partei. Zahlreiche Zitate belegen, dass AfD-Politikerinnen aus dem Europaparlament, dem Bundestag und den Landesparlamenten zwischen echten Deutschen und »Passdeutschen« unterscheiden. Zahlreiche Politikerinnen äußern dabei Pläne und Gedanken, wie man Deutsche mit Migrationsgeschichte schlechter stellen kann. Ein besonderes Augenmerk richtet der Verfassungsschutz auf die Islamfeindlichkeit der AfD. Auch hier liefert er zahlreiche Belege, wie die Partei Migration, Religion und Gewalt verknüpft, um ein gefährliches Bild von Musliminnen zu erzeugen. Insgesamt erwähnt der Inlandsgeheimdienst in seinem Bericht 353 Personen konkret. Die Behörde hat sich auf Funktionsträgerinnen auf Europa-, Bundes- und Landesebene fokussiert. Aussagen von kommunalen Verbänden oder Einzelpersonen ohne Funktion werden im Gutachten nur in begründeten Ausnahmefällen berücksichtigt.

Neben den Verletzungen der Menschenwürde untersuchte der Verfassungsschutz die AfD auch auf Verletzungen des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips und ihre Positionierung zum Nationalsozialismus. In allen drei Feldern kommt er nur zu einer zurückhaltenden Bewertung. Zum Nationalsozialismus stellt das Gutachten etwa fest, dass es in der AfD relativierende Tendenzen gebe, diese seien aber zu gering, um »den Nationalsozialismus relativierende Bestrebungen« festzustellen. Den Prozess um Björn Höckes Verwendung der SA-Losung »Alles für Deutschland« und bundesweite Solidarisierungen innerhalb der Partei bezieht der Inlandsgeheimdienst dabei in seine Bewertung ein.

Zur Verletzung des Rechtsstaatsprinzips verweist der Verfassungsschutz, wie schon bei den Verhandlungen vor den nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichten, auf Presseberichte über eine Chatgruppe der bayerischen AfD. Dort wurden offen Umsturzfantasien besprochen. Nur am Rande erwähnt werden die ehemalige Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann, die wegen Beteiligung an der Terrorgruppe des Reichsbürger-Prinzen Reuß vor Gericht steht. Auch die AfD-Funktionäre, die sich an den terrorverdächtigen »Sächsischen Separatisten« beteiligt haben, werden nur an einer Stelle erwähnt. Dem Verfassungsschutz liegt »keine zur Gewissheit verdichtete Erkenntnislage« vor, ob die AfD gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt.

Erkenntnisse, die der Inlandsgeheimdienst nicht aus Veröffentlichungen der AfD oder über sie gewonnen hat, finden sich im Gutachten kaum. Sie betreffen vor allem Zahlungen der AfD an Akteure der extremen Rechten. So zahlte die Landtagsfraktion der AfD Sachsen-Anhalt über 2300 Euro für Anzeigen an das »Compact-Magazin«. An die zum extrem rechten Verein Ein Prozent gehörende Archetyp GmbH zahlten Gliederungen der AfD und ihrer Jugendorganisation allein zwischen 2017 und 2022 über 340 000 Euro.

Dass der Verfassungsschutz das Gutachten nicht selbst veröffentlicht hat, bleibt unverständlich. Es verrät weder Geheimnisse noch lässt es mehr über die Arbeitsweise der Behörde erkennen, als dass man dort fleißig mitliest, hört und sieht, was bei der AfD veröffentlicht wird.

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