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Revanchismus ist in den Hintergrund getreten
75 Jahre nach Unterzeichnung der Charta der Heimatvertriebenen präsentiert ihr Dachverband sich als Menschenrechtsorganisation
Der Bund der Vertriebenen (BdV) ist nicht besonders aktiv in den sozialen Medien, aber hin und wieder gibt es einen Beitrag. Zum Beispiel erklärte BdV-Präsident Bernd Fabritius am 30. Mai auf der Plattform X: »Weltweit sind mehr als 122 Millionen Menschen auf der Flucht. Ob in der Ukraine, im Sudan, im Gazastreifen, im Kongo oder anderswo: Seit Jahren steigt diese Zahl immer wieder auf neue, furchtbare Rekordwerte. Unter den Flüchtlingen gibt es viele, die wahrscheinlich nie wieder in ihre Heimat zurückkehren können – und zu Vertriebenen werden.«
Menschen werde willkürlich »die Lebensgrundlage entzogen«, ihre »Heimat zerstört«, ihr »Hab und Gut vernichtet oder enteignet«. Dies sei in der Geschichte immer wieder zu beobachten. Fabritius weiter: »Vertreibungen waren, sind und bleiben Unrecht! Das war nach 1945 so und es ist auch 2025 so. Überall auf der Welt!« Der Bezug auf 1945 ist das Einzige, woran Lesende erkennen können, dass der Beitrag nicht von einer »normalen« Menschenrechtsorganisation stammt.
Das kann angesichts der Geschichte des Dachverbandes zahlreicher »Landsmannschaften« durchaus verwundern. Wenn der BdV an diesem Dienstag den 75. Jahrestag der Unterzeichnung der Charta der Heimatvertriebenen feiert, dann wird vor allem an zwei Dinge erinnert: die Integrationsleistung der Vertriebenen – und die Tatsache, dass sie in ihrem Grundsatzdokument »auf Rache und Vergeltung« verzichtet haben.
Friedrich Merz, der als Bundeskanzler die Festrede in Stuttgart halten wird, hatte schon vergangenes Jahr auf dem alljährlich am 6. August vom BdV begangenen »Tag der Heimat« viel Lob verteilt. Ohne den »Großmut« der Vertriebenen, die anerkannt hätten, »dass die alte Heimat mittlerweile auch Heimat für andere Menschen geworden ist«, wäre die Versöhnung mit den »östlichen Nachbarn« nicht möglich gewesen, so der CDU-Vorsitzende.
Auch seine eigene Geschichte gab Merz zum Besten: 1974 sei er erstmals in der alten Heimat seines Vaters bei Wrocław gewesen. Bewegt schilderte er eine Fahrt zum ehemaligen Bauernhof eines Bekannten. Als der »In dem Augenblick, als der alte Schlüssel, den der Freund meines Vaters dabei hatte, noch in das Schloss des Hauses passte, ist das Eis gebrochen«, erzählte er. Die deutschen Besucher und die polnischen Bewohner hätten einen »angenehmen, auch getränkereichen Abend« miteinander verbracht.
Über ihre frühere Rolle sprechen die Vertriebenenverbände in den Bundesländern, der BdV und die eng mit ihnen verbundenen Unionsparteien heute weniger gern. Dass sie seinerzeit die Speerspitze des Widerstandes gegen die auf echte Aussöhnung und Entspannung zwischen den Staaten des Warschauer Vertrags und Westeuropa orientierte »Ostpolitik« des damaligen SPD-Bundeskanzlers Willy Brandts waren, ist heute kein Thema mehr.
Auch, dass der BdV in der alten Bundesrepublik maßgeblich eine Anerkennung der DDR als Staat inklusive ihrer östlichen Grenzen hintertrieb, wird heute eher verschwiegen. So wurde im Westen von der DDR nicht selten als »Mitteldeutschland« gesprochen, um klarzumachen, dass zum in ihren Augen wahren Deutschland doch auch noch die früheren »Ostgebiete« gehörten. Den Verlust von Regionen wie Schlesien und dem Sudetenland, die seit dem Untergang des Hitlerreichs zu Polen oder Tschechien gehören, wollte man nicht hinnehmen. Der BdV erkannte die Oder-Neiße-Grenze sogar erst 1995 an. Zudem spielten die Vertriebenenverbände die Rolle von früheren NS-Funktionären in ihren Reihen in der Vergangenheit regelmäßig herunter.
Gleichwohl hat sich beim BdV etwas getan, seit die frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach, heute Chefin der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung und Mitglied der extrem rechten Partei, 2014 nicht mehr als Verbandspräsidentin kandidierte. Ihr Nachfolger Bernd Fabritius stammt aus Rumänien, ist ein Siebenbürger Sachse und wanderte 1984 mit seinen Eltern in die Bundesrepublik ein. Der CSU-Politiker wird gern als »Brückenbauer« bezeichnet. Der 60-Jährige hat es geschafft, die Außendarstellung und Kommunikation des BdV zu verändern. Der Verband gab zwar den Anspruch auf ehemalige deutsche Ostgebiete nie wirklich auf. Doch man spricht nicht mehr viel davon. Stattdessen tritt man mittlerweile global für das »Recht auf Heimat« ein, das als universelles Menschenrecht auf kulturelle Identität und Bewahrung des Erbes interpretiert wird, und lobbyiert für eine weltweite Ächtung von Vertreibungen.
Durch die Neuausrichtung konnte der BdV seine Anliegen beibehalten, ohne von einer breiten Öffentlichkeit als revanchistisch wahrgenommen zu werden. BdV-Präsident Fabritius war von 2018 bis 2022 und ist seit Ende Mai 2025 wieder Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten.
Sich für die deutsche Minderheit in Polen einzusetzen, gehörte in den letzten Jahren zu den Hauptaktivitäten des BdV. 2022 hatte die von der nationalistischen PiS-Partei angeführte polnische Warschauer Regierung den Sprachunterricht für die deutsche Minderheit von drei auf eine Schulstunde gekürzt. Der BdV unterstützte Proteste dagegen. In seinen Reihen atmete man auf, als Donald Tusk in Polen wieder Ministerpräsident wurde, den der Verband schon zuvor als umgänglicheren Partner erlebt hatte.
Kontroversen über die Ausrichtung der Vertriebenenverbände gibt es aber immer noch und auch die alte nationalistische Sprache. Die Landsmannschaft Ostpreußen stellte dem BdV bei ihrer vergangenen Jahrestagung zwar ein gutes Zeugnis aus: Er habe immer noch Einfluss auf die Politik. Mit dem vom BdV noch unter Steinbach initiierten Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist man bei den Ostpreußen aber überaus unzufrieden. Es konzentriere sich »in seinen Ausstellungen zu sehr auf allgemeine Aspekte rund um das Thema Zwangsmigration und vernachlässige zugleich den eigentlichen Auftrag, ein Lernort über die Vertreibung der Deutschen aus ihrer jahrhundertelangen Heimat im historischen deutschen Osten und in Ostmitteleuropa zu sein.« Die Ostpreußen bleiben also bei einem Ton, wie man ihn von den Vertriebenengruppen eher nur von früher kennt.
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