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Was ist verfassungsfeindlich?

Gerichtsentscheidungen geben wichtige Hinweise dafür, was an der AfD verbotswürdig sein könnte

Das Bundesverfassungsgericht hat seit 1952 Kriterien für Verfassungsfeindlichkeit definiert. 2023 befasste es sich auch mit einer AfD-Klage zur Parteienfinanzierung (Bild).
Das Bundesverfassungsgericht hat seit 1952 Kriterien für Verfassungsfeindlichkeit definiert. 2023 befasste es sich auch mit einer AfD-Klage zur Parteienfinanzierung (Bild).

Seit etwas mehr als einer Woche ist bekannt, dass der Verfassungsschutz die Alternative für Deutschland (AfD) als »gesichert rechtsextremistische Bestrebung« einstuft. Mit dieser ungelenken Formulierung im Behördendeutsch will der Inlandsgeheimdienst sagen, dass er die AfD für verfassungsfeindlich hält.

Wie der Verfassungsschutz im Detail zu seiner Einschätzung gekommen ist, darüber bleibt die Öffentlichkeit im Unklaren. Die Einstufung der Partei beruht zwar auf einem 1100 Seiten dicken Gutachten, doch das hat die Behörde nicht veröffentlicht. Der Plattform »Frag den Staat« ist es zu verdanken, dass ein 17-seitiger Auszug mit 37 Belegen zur Verfassungsfeindlichkeit der AfD mittlerweile veröffentlicht wurde.

Der Verfassungsschutz selbst führt in seiner Pressemitteilung zur Einstufung der Partei vor allem an, dass diese gegen das Prinzip der Menschenwürde verstoße. Die AfD vertrete ein »ethnisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis«, das nicht mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar sei. Die Partei wolle »bestimmte Bevölkerungsgruppen« ausschließen und sie »einer nicht verfassungskonformen Ungleichbehandlung« aussetzen und ihnen damit einen »rechtlich abgewerteten Status« zuweisen. Diese Zusätze sind entscheidend, denn wer nur ein völkisches Weltbild pflegt, ohne dabei rassistisch abzuwerten, handelt nicht gegen die Verfassung.

Was das Verfassungsgericht für verfasssungsfeindlich hält

Um zu verstehen, was in der Bundesrepublik verfassungsfeindlich ist, und Rückschlüsse auf die Erfolgsaussichten eines AfD-Verbotsverfahrens zu ziehen, lohnt sich ein Blick in die deutsche Rechtsgeschichte. Die Sozialistische Reichspartei (SRP) wurde 1952 verboten, 1956 die KPD. 1994 weigerte sich das Bundesverfassungsgericht, über ein Verbot der neonazistischen Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) zu entscheiden. Es zweifelte daran, dass die Neonazi-Gruppe überhaupt eine Partei ist. Verbotsverfahren gegen die NPD scheiterten 2003 und 2017. Aus den unterschiedlichen Urteilen lässt sich allerdings eine Rechtsprechung ableiten, die umreißt, was das höchste deutsche Gericht für verfassungsfeindlich hält.

In der Entscheidung zum Verbot der SRP hat das Bundesverfassungsgericht definiert, was die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausmacht. An erster Stelle nennt das Gericht die »Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte«. Dann folgt eine Aufzählung: »das Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition«. Wer diese Prinzipien ablehne oder gegen sie agitiere, sei verfassungswidrig. Die SRP wurde verboten.

Das KPD-Verbotsverfahren

Im KPD-Verbotsverfahren, das sich über fünf Jahre hinzog, fügte das Bundesverfassungsgericht ein weiteres Kriterium hinzu. Es stellte fest, dass nur eine Partei mit einer »aktiv kämpferischen, aggressiven Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung« verbotswürdig sei. Reine Meinungsäußerungen seien nicht ausreichend. Stattdessen müsse eine Partei »planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen« und »diese Ordnung selbst beseitigen« wollen. Das Bundesverfassungsgericht attestierte der KPD diesen Willen und verbot sie.

In den erfolglosen NPD-Verbotsverfahren 2003 und 2017 gaben die Verfassungsrichter*innen zwei weitere Kriterien mit. Im ersten Verfahren bemängelten sie eine »fehlende Staatsferne« der NPD: Zu viele V-Leute der Verfassungsschutzbehörden waren in der Partei aktiv. Sie beeinflussten die Willensbildung in der Partei zu sehr. Beim letzten NPD-Verbotsverfahren machte das Bundesverfassungsgericht ein weiteres Kriterium zum entscheidenden Gradmesser: die »Potenzialität«. Gemeint ist damit die Stärke der Partei. Das Gericht stellte fest, dass die NPD zwar gegen die Verfassung ausgerichtet sei, ihr aber die Kraft zur Umsetzung ihrer Ziele fehle. Inhaltlich machte das Gericht die Verfassungsfeindlichkeit der NPD an ihrer Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus, ihrer Ablehnung des Demokratieprinzips und der Menschenwürde fest. Die Richter*innen erklärten, die NPD strebe eine »Volksgemeinschaft« an.

Der Kernvorwurf des Verfassungsschutzes gegenüber der AfD

Die Verletzung der Menschenwürde ist auch der Kernvorwurf des Verfassungsschutzes gegenüber der AfD. In den von »Frag den Staat« veröffentlichten Belegen finden sich auf 16 Seiten Aussagen von AfD-Politiker*innen und Gliederungen, die der Behörde zufolge belegen, dass die Partei mit ihrem Volksbegriff, allgemein fremdenfeindlichen Veröffentlichungen und speziell islamfeindlichen Positionierungen gegen die Menschenwürde verstoße.

»Die Verletzung der Menschenwürde ist der Kernvorwurf des Verfassungsschutzes gegenüber der AfD.«

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Außerdem werden im Auszug aus dem Gutachten drei Beispiele für Verletzungen des Demokratieprinzips aufgelistet. In seiner Pressemitteilung verzichtet der Verfassungsschutz komplett darauf zu erwähnen, wo die AfD gegen das Demokratieprinzip verstößt. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen bemängelte im letzten Jahr, dass es weniger Hinweise für Bestrebungen gegen das Demokratieprinzip gebe, als der Verfassungsschutz suggeriere.

Das Münsteraner Gericht hatte über die Einstufung der AfD als »Verdachtsfall« zu entscheiden. Das Gericht entschied im Sinne des Inlandsgeheimdienstes. Mit Verweis auf eine Chat-Gruppe bayerischer AfD-Politiker*innen erklärte das Gericht, es sei anzunehmen, dass besonders gegen das Demokratieprinzip gerichtete Aussagen nicht in der Öffentlichkeit stattfinden. Möglich ist also, dass dem Verfassungsschutz hier aktuell mehr Belege vorliegen, er sie aber nicht veröffentlicht, um zu verschleiern, wie sehr er in der Kommunikation der AfD steckt.

Auffällig ist außerdem, dass in den Veröffentlichungen des Verfassungsschutzes jegliche Verweise auf eine Wesensverwandtschaft der AfD mit dem Nationalsozialismus fehlen. Parteipromis, zuvorderst Björn Höcke mit der SA-Losung »Alles für Deutschland«, spielen immer wieder auf das »Dritte Reich« an. In aller Öffentlichkeit. Wieso der Verfassungsschutz dazu nichts in die Öffentlichkeit trägt, ist unbekannt. Genau wie der Großteil des aktuellen Gutachtens. Um beurteilen zu können, was es zu einem Verbot der AfD beitragen kann, müsste es aber an die Öffentlichkeit.

Stillhaltezusage des Verfassungsschutzes

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bezeichnet die AfD bis zu einer Gerichtsentscheidung über ein Eilverfahren nicht mehr öffentlich als gesichert rechtsextremistische Bestrebung. Der Inlandsgeheimdienst gab im Rechtsstreit mit der AfD eine sogenannte Stillhaltezusage ab. Eine Sprecherin des Verwaltungsgerichts Köln bestätigte den Eingang eines entsprechenden Schreibens der Behörde.
Das Bundesamt wollte sich »mit Blick auf das laufende Verfahren und aus Respekt vor dem Gericht« in dieser Angelegenheit nicht öffentlich äußern. Wann die Entscheidung im Eilverfahren getroffen wird, ist bisher unklar. Die AfD hatte gegen die neue Einstufung durch das BfV geklagt.
Der Verfassungsschutz hatte auch 2021 eine Stillhaltezusage gemacht, nachdem die AfD gegen ihre damalige Einstufung als »Verdachtsfall« geklagt hatte. Die damalige AfD-Klage blieb in zwei Instanzen erfolglos, wobei das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster noch nicht rechtskräftig ist. Die Stillhaltezusage bedeutet nicht, dass die Verfassungsschützer ihre Einstufung zurücknehmen. dpa/nd

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