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Das Onkel-Hans-Phänomen
Ein Aufruf an einige Faceboomer, im Internet weniger garstig und nutzlos aufzutreten
Das Onkel-Hans-Phänomen beschreibt jenen Typ Erklär-Onkel, den es früher in vielen Familien gab. In meiner war das eben jener Onkel Hans: Jahrgang 1933, gemütlich-jovialer Typ, Zigarrenraucher, sehr gute Beamtenpension – und somit ausgestattet mit genügend Tagesfreizeit, um sich über alle ihm zugänglichen Quellen (von Karl-Heinz Köpckes »Tagesschau« über Gerhard Löwenthals »ZDF-Magazin« bis hin zu Werner Höfers »Frühschoppen«, Peter Scholl-Latours Büchern und »Peter Moosleitners interessantes Magazin«) ein wenn auch eher eigensinniges Bild von der Welt zu machen.
So weit, so egal – wäre nicht der unstillbare Hang des Onkels gewesen, jeden, der nicht schnell genug das Weite suchte, mit seinem aufgeschnappten Halbwissen und den daraus folgenden Erkenntnissen zur Weltlage zu behelligen. So wie ich es wiederholt und leidvoll erleben musste, wann immer ich Onkel Hans begegnete; was dank etlicher Familienfeiern unvermeidlich war.
Kaum hatte man sich also zu Tante Ilses Geburtstag, Opa Wilhelms Beerdigung oder Cousin Jochens Verlobung im mehr oder weniger großen Familienverbund getroffen, schon gelang es Hans in kürzester Zeit, sich an mich ranzuwanzen, um mir ohne lange Vorrede, aber dafür um so detaillierter auseinanderzusetzen, wie seiner Ansicht nach »der Jude« den Nahost-Konflikt zu lösen habe, »der Russe« nicht länger vom Westen dominiert werden müsse und »die Maurer«, wie er die Freimaurer abkürzte, keinen schädlichen Einfluss mehr nehmen könnten auf die Geschicke Deutschlands.
Die Höflichkeit gebot mir, seinen Ausführungen wenigstens für ein paar Minuten mit gespieltem Interesse zu folgen. Aber sobald sich die Möglichkeit ergab, sah ich zu, dass ich Land gewann vor seinen nicht endenden Welterklärungen. Was manchmal schwieriger war als gedacht. Denn egal, wo ich mich zu verstecken suchte, zielsicher spürte Hans mich wieder auf, um ansatzlos genau da weiterzumachen, wo ich ihn gerade erst unter Ausflüchten (muss auf Klo, mir die Beine vertreten, Cousine Kathrin begrüßen) abgewürgt hatte. Manch Familienfest geriet mir so zur Tortur.
Onkel Hans ist lange tot. Aber das nach ihm benannte Phänomen hat ihn überlebt. Besonders in jüngster Zeit rückt es mir verstärkt auf die Pelle, und zwar – wo sonst – im Internet. Auf Facebook vor allem, jener Ersatzfamilie für viele von uns Boomern, in der zwar schon von Beginn an einige recht stattliche Erklärbären ihr Unwesen trieben, das sich mittlerweile aber bei etlichen von ihnen zu einer regelrechten Plage entwickelte.
In meinem Fall sind es einige Faceboomer, Peter, Paul und Pit, die – mittlerweile etwa so alt, wenn auch nicht ganz so gut verrentet wie Onkel Hans zu seinen anstrengendsten Zeiten – einen Großteil ihrer Altersteilzeit dafür aufzuwenden scheinen, sich über sämtliche ihnen zur Verfügung stehende Quellen (also alle deutsch-, englisch- und russischsprachigen Onlineportale; diesseits der Bezahlschranken, versteht sich) mit allen digital nur auftreibbaren Informationen, Hintergründen und Analysen zum heutigen Weltgeschehen einzudecken.
So weit, so egal – wäre da nicht auch ihr unstillbarer Hang, ihre so zusammengerührten Erkenntnisse über die geopolitischen, weltwirtschaftlichen und sowohl kriegs- als auch friedensstiftenden Zusammenhänge in mal kürzere, meist längere, aber garantiert immer belehrende und entsprechend behämmerte Facebook- oder Insta-Postings zu gießen und diese, teils im Stundentakt, über ihre Accounts herauszuhauen, sodass es – ähnlich wie damals vor Onkel Hans weitschweifigen Weltlagen – zuweilen kein Erbarmen und kein Entfliehen mehr gibt. Außer man bleibt konsequent offline oder entzieht sich den Zumutungen solcher längst überwunden geglaubter Hans-Wurstereien durch temporäre Blockaden oder gar Freundschaftsabbruch.
Also, lass es allmählich wieder gut sein mit deinen haltlosen Verschwörungen, Kollege Peter. Und du, langjähriger Kumpel Paul, rücke bitte wieder ab von deinen immer garstigeren Postings und ach so erschütternd nutzlosen Kommentaren zur Lage der Welt. Und dir, lieber Pit, rufe ich zu: Beende endlich dein lang erwartetes Buch, statt dich durch fortgesetzte Selbstüberschätzung, peinsame Angeberei und spuckeschleudernde Verachtung eines angeblich verbreiteten Bellizisten- und Grünentums endgültig um deine einst so makellose Reputation als ebenso geistreicher wie witziger und lebenskluger Freund zu bringen.
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