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Der Staat, das bin ich nicht!

Warum unser Kolumnist Yossi Bartal niemals für sein Land arbeiten würde

Der Kanzler der zweiten Wahl möchte gern, dass wir alle mehr Verantwortung für unseren Staat übernehmen.
Der Kanzler der zweiten Wahl möchte gern, dass wir alle mehr Verantwortung für unseren Staat übernehmen.

Friedrich Merz – Kanzler der zweiten Wahl, Golfer vom Tegernsee, getreuer Diener der Großkonzerne – trat vergangene Woche vor den Bundestag, um sich und seine Regierung feierlich »in den Dienst unseres Landes und aller seiner 84 Millionen Bürgerinnen und Bürger« zu stellen. Damit meinte er anscheinend auch die mehr als 12 Millionen, die laut Statistischem Bundesamt gar keine deutschen Staatsbürger*innen sind und ihn gar nicht wählen konnten.

Ganz ehrlich: So sanft und staatsmännisch hat der Mr. Burns aus dem Sauerland selten gewirkt wie in dieser fast 45-minütigen Rede. Neben bedeutungslosen Floskeln zur Außenpolitik – fast so schlimm wie die der ausrangierten Ampel – ging es vor allem um die Stärke Deutschlands – militärisch, vor allem aber wirtschaftlich. Und dann wurde mir klar: Er verzichtet nicht auf zugespitzte rassistische und kulturkämpferische Anmerkungen, weil er geläutert ist, sondern weil er uns in diesem herausfordernden Moment mobilisieren will. Uns alle, die hier schuften, shoppen und gelegentlich auch leben – mit oder ohne Migrationsprobleme als Hintergrund oder im Hinterkopf. Und weil er uns als Bausteine seiner trostlosen Vision braucht.

Yossi Bartal

Yossi Bartal ist seit 2006 ein begeisterter Wahl-Neuköllner. Aufgewachsen in West-Jerusalem lernte er früh, dass Selbsthass die edelste Form des Hasses ist. Mit einer gesunden Dosis Skepsis gegenüber Staat und Gesetz schreibt er für nd.Digital jeden dritten Montag im Monat über Parallelgesellschaften, (Ersatz-) Nationalismus und den Kampf für eine bessere Welt.

Dafür benutzte der heimatverbundene Privatflieger einen bekannten rhetorischen Trick: den Appell an kollektive Verantwortung, der Gleichheit simuliert. Und tatsächlich kommt das Wort Verantwortung in dieser Regierungserklärung sehr häufig vor. Eine Verantwortung, die wir alle – sowohl Merz und seine Regierung als auch die Konzernchefs, die Gewerkschaften, aber auch ich und du, geehrte Leserin – übernehmen müssen, um unser Land irgendwie nach vorne zu bringen.

Das heißt, wie Merz wenige Stunden vorher unmissverständlich auf dem CDU-Wirtschaftstag erklärte, dass wir viel mehr arbeiten müssen. »Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können«. Weder Ausbeuter noch Ausgebeutete sollten sich dabei »mit Misstrauen und Kontrollansprüchen begegnen« – ihr wisst schon, solche belastenden Details wie Umweltschutz, reguläre Arbeitszeiten und andere woke Begriffe – »sondern mit Vertrauen und eben mit Verantwortung«.

Ich für meinen Teil sage als erfahrener Drückeberger: Ich würde für so ein Land nicht mal Überstunden machen.

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Vor allem bei einer Stelle musste ich ganz unverantwortlich schlucken: »Der Staat«, meinte der Chef der Exekutive, »sind wir alle«, und deshalb müsse sich jede Forderung, die sich an »den Staat« richtet, »zugleich an jeden Einzelnen, auch an denjenigen, der eine solche Forderung erhebt«, richten. Mit dieser mir neu verliehenen Identität – als Organ des Staates – komme ich allerdings gar nicht klar. Seit der Rede von Merz versuche ich täglich, Forderungen wie den Stopp von Waffenlieferungen an genozidale Staaten, die Enteignung von Wohnkonzernen oder die Erhöhung der Löhne in Krankenhäusern und Schulen an mich selbst zu richten – bisher ohne sichtbaren Erfolg.

Und so bleibt mir nur der Schluss: Ein Staat, der Menschheitsverbrechen unterstützt, die Umwelt zerstört, Grundrechte abbaut – und Proteste dagegen niederknüppelt –, hat jeden Anspruch darauf verwirkt, »mein« Staat zu sein. Ole Nymoen hat in seinem Essay »Warum ich niemals für mein Land sterben würde« überzeugend beschrieben, warum das Opfer für eine politische Konstruktion sinnlos ist, deren Zukunftsvision aus Aufrüstung, Austerität und Altersarbeit besteht. Ich für meinen Teil sage als erfahrener Drückeberger: Ich würde für so ein Land nicht mal Überstunden machen.

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