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  • Präsidentschaftswahlen in Bolivien

»Bolivien steckt in drei Krisen«

Die Schriftstellerin Quya Reyna hofft auf neue Führungspersönlichkeiten

  • Interview: Steffen Heinzelmann, La Paz
  • Lesedauer: 3 Min.
Die bolivianische Bevölkerung erhofft sich von der Regierung ein Ende der hohen Lebensmittelpreise.
Die bolivianische Bevölkerung erhofft sich von der Regierung ein Ende der hohen Lebensmittelpreise.

Die Präsidentschaftskandidat*innen für die Wahlen im August sind seit 19. Mai nominiert, was treibt die Bevölkerung um?
In Bolivien durchleben wir derzeit drei große Krisen. Erstens gibt es eine institutionelle Krise, in der sich die Regierung stark in Angelegenheiten einmischt, die außerhalb ihrer verfassungsgemäßen Zuständigkeit liegen, zum Beispiel in den Obersten Wahlgerichtshof. Zweitens gibt es einen Machtkampf innerhalb der regierenden Bewegung zum Sozialismus (MAS), in dem Präsident Luis Arce und Evo Morales um die Kontrolle über die Partei und letztendlich auch die Macht im Staat kämpfen, was zur Zersplitterung der Partei geführt hat. Drittens stecken wir in einer schweren Wirtschaftskrise, die viele Menschen belastet. Die Bevölkerung ist verärgert und wünscht sich Schutz vor Arbeitslosigkeit sowie ein Ende der hohen Lebensmittelpreise. Viele streben nach Erneuerung, aber ich glaube, dass die Opposition diesen Wunsch missverstanden hat, indem sie denkt, dass Veränderung gleichbedeutend mit rechter Politik ist. Ein Kandidat wie Andrónico Rodríguez (einstiger Ziehsohn von Evo Morales, d. Red.) könnte eine Schlüsselrolle spielen, indem er in diesen Konflikten eine Brücke schlägt und die Krise zumindest entschärft.

Wäre der bisherige Transformationsprozess in Bolivien, bekannt als »Cambio«, durch einen Erfolg der rechten Opposition in Gefahr?

Interview

Quya Reyna (30) ist Schriftstellerin aus der bolivianischen Großstadt El Alto. Mit ihrem Kurzgeschichtenband »Los Hijos de Goni« (»Die Kinder von Goni«, 2022) gilt sie als eine Stimme der jungen indigenen Generation in Bolivien. Als Journalistin setzt sie sich kritisch mit den politischen Ereignissen in ihrem Land auseinander.

Der Prozess des Wandels hat eine bedeutende Rolle gespielt. Evo Morales hat einen marginalisierten Sektor der Gesellschaft gestärkt, insbesondere die indigene Bevölkerung. Ich glaube, dass Morales seine Rolle bis zu diesem Punkt erfüllt hat, und dass sich ein Großteil der sozialen Basis nach anderen politischen Persönlichkeiten umsieht. Während Morales Entscheidungen von oben beeinflusst, sollte eigentlich die Mehrheit von unten nach oben entscheiden, das ist ein grundlegendes Prinzip gesellschaftlicher Bewegungen.

Über die Hälfte der Bevölkerung Boliviens ist jünger als 25 Jahre alt. Wie stehen diese zu den aktuellen politischen Entwicklungen?

Viele junge Menschen in Bolivien sind mit dem Prozess des »Cambio« aufgewachsen. Während die ältere Generation Morales als Repräsentanten von Ethnizität, Identität und Klasse sieht, identifizieren sich viele junge Menschen zwar mit ihren indigenen Wurzeln, betrachten sich jedoch nicht unbedingt als Indigene. Ihre Identität ist vielfältig. Zudem interessieren sie sich für neue digitale Technologien, da sie online Inhalte teilen oder Geschäfte über digitale Netzwerke abwickeln möchten. In einem Staat ohne Datenschutz und mit vielen Beschränkungen für digitale Märkte sollte sich eine zukünftige Regierung deshalb stärker auf digitale Themen konzentrieren. Umweltschutz und Feminismus sind ebenfalls relevant, jedoch hier nicht so stark sichtbar wie in Argentinien oder Mexiko. Die Wirtschaft dagegen wird ein Bezugsraum sein, der viele junge Wähler anziehen wird. Ich denke, dass der Prozess des »Cambio« seine Aufgabe erfüllt hat, indem er für indigene Bevölkerung Möglichkeiten eröffnet hat, ihre Marginalisierung zu überwinden – und sich jetzt auch in der digitalen Welt, in den Netzwerken, zu behaupten.

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Ändert sich für junge Menschen auch die Art, politische und gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen?

Wir leben in einer stark polarisierten politischen Situation, und ich glaube, die Menschen sind dieser Polarisierung überdrüssig und werden sie nach und nach überwinden. Ich setze auf eine Politik, die die Bedürfnisse einer neuen Generation stärker berücksichtigt, und sehe potenzielle junge Führungspersönlichkeiten aufkommen. Es bleibt abzuwarten, auf welche Art diese die Politik gestalten werden, denn die traditionellen sozialen Organisationen verlieren an Einfluss und Macht. Die neue Generation muss alternative Wege finden, um politisch aktiv zu werden, sei es über die Universitäten, Institutionen oder Nichtregierungsorganisationen. Die aktuellen Herausforderungen bieten also auch die Chance, neue Führungspersönlichkeiten hervorzubringen.

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