Der Ruheverkäufer

Es könnte auch mal leiser werden, findet Alex Demirović

Kann weg: Auf dem «Harzer-Oster-Tuning»-Treffen kommen mehrere Hundert Menschen zusammen, um möglichst lauten Motorenlärm zu erzeugen.
Kann weg: Auf dem «Harzer-Oster-Tuning»-Treffen kommen mehrere Hundert Menschen zusammen, um möglichst lauten Motorenlärm zu erzeugen.

Jeder Tag ein anderer Tag des Erinnerns, des Feierns, der Würdigung, des Erheischens von Aufmerksamkeit. Die Vereinten Nationen haben den ersten Welttag am 31.10.1947 ausgerufen. Mehr als einhundert solche Welttage gibt es mittlerweile, sie sollen an globale Probleme erinnern: soziale Gerechtigkeit, der Frauen, des Hörens, der Poesie, der Gletscher.

Der 28. Mai gilt als internationaler Tag der Frauengesundheit. Am 25.5. wird der internationale Handtuchtag gefeiert, der an den Schriftsteller Douglas Adams erinnert. Der 22. Mai ist der internationale Tag zur Erhaltung der Artenvielfalt. Am 9. Mai erinnert der Europatag daran, was die EU in 75 Jahren erreicht hat. Der 8. Mai gedenkt der Befreiung der Nazigefangenen aus den Konzentrationslagern und Gefängnissen. Am 3. Mai findet der Weltfischbrötchentag statt und wird der internationale Tag der Pressefreiheit begangen. In Deutschland war der 3. Mai in diesem Jahr auch der Tag der Erdüberlastung. Er lag etwas später als vergangenes Jahr, weil der Verbrauch geringfügig zurückgegangen ist.

Alex Demirović

Alex Demirović stammt aus einer jugoslawisch-deutschen Familie; der Vater wurde von den Nazis als Zwangsarbeiter verschleppt. Wegen eines politisch motivierten Vetos des hessischen Wissenschaftsministeriums durfte Demirović in Frankfurt nicht Professor werden. Seitdem bewegt er sich an der Schnittstelle von Theorie und Politik. Jeden vierten Montag im Monat streitet er im »nd« um die Wirklichkeit.

Hervorgehoben wird er als besonderer Tag, weil ab diesem Tag die Menschen in Deutschland ökologisch über ihre Verhältnisse leben, denn würden alle Menschen so viele natürliche Rohstoffe verbrauchen und CO₂ ausstoßen wie hierzulande, bräuchte die Menschheit knapp drei Erden. Am 2. Mai wird der Weltthunfischtag, das Baby und der internationale Kampf- und Feiertag der Arbeitslosen gefeiert. Der 1. Mai ist der Tag der Arbeit. Der 30. April ist dem Jazz gewidmet; der 26. April gilt als Tag des geistigen Eigentums. Und so weiter und so fort.

Es gibt über das Jahr verteilt jeden Tag viele kuriose und ernste Gedenktage. Sie wollen öffentliche Aufmerksamkeit für ein Anliegen mobilisieren, den Blick auf ein Problem richten, Verständnis erzeugen. Wie soll das gehen? Es handelt sich um ein selbstwidersprüchliches Projekt. Denn gerade, weil jeder Tag im Jahr hervorgehoben wird und für etwas Besonderes stehen soll, gehen die Tage über ins Einerlei. Sie werden zu einer Serie, zu einer kulturindustriellen Ereignisabfolge. Das, was gerade hervorgehoben wird und als wichtig erscheint, ist morgen schon wieder vorbei; und mit dem neuen Tag steigt schon das nächste wichtige oder unwichtige Thema zur Schlagzeile auf. Doch eigentlich müsste man viele dieser Tage wirklich und über den Tag hinaus ernst nehmen.

An die Befreiung der Menschen aus einer lebensvernichtenden Lagerexistenz zu erinnern ist wichtig – gerade weil es so viele gibt, die die Existenz der Lager, die historischen Tatsachen leugnen und damit drohen, es wiederholen zu wollen; die sich gleichgültig oder zustimmend zu solchen Gewaltdynamiken verhalten. Es lässt sich angesichts rechter Gewalt, der leichtsinnigen (Nicht-)Verfolgung durch Polizei und Gerichte leicht vorstellen, dass es wieder wilde Folterkeller und Morde geben könnte. Wenn der Erdüberlastungstag hervorgehoben wird, dann steckt darin irgendwie schon der Widerspruch. Es soll auf den nicht-suffizienten Verbrauch in Deutschland hingewiesen werden. Aber was ist am nächsten Tag? Jeder Folgetag ist eigentlich ein Tag, der dafür steht, dass das Unheil weitergeht und weiterhin zu viel verbraucht wird.

Über einen Feiertag habe ich mich aktuell besonders gefreut. Ich wusste nicht, dass es ihn gibt. Ich meine den 28. April, den Tag gegen Lärm oder International Noise Awareness Day.

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In der Pluralität dieser Tage können sich alle die ihnen liebsten Gedenktage herausgreifen und sie feiern. Was heute wichtig erscheint, ist morgen schon wieder vorbei. Vielleicht, um diesem schnellen Wechsel und Verschleiß des Erinnerns zu entgehen, gibt es auch die Erinnerungswochen: am 25. Mai beginnt die Woche der Gewährung der Unabhängigkeit an Kolonialländer und -völker. So etwas ist dann wie so manch anderer Erinnerungstag ein Ärgernis: Wurde die Unabhängigkeit wirklich »gewährt«? Wurde sie nicht erkämpft von vielen, die sich dem Kolonialismus entgegenstellten? War nicht überhaupt schon die sogenannte Abhängigkeit eine Unverschämtheit? Ist nicht bereits die Rede von Kolonialländern eine Zumutung?

Über einen Gedenktag habe ich mich aktuell besonders gefreut. Ich wusste nicht, dass es ihn gibt, so wie ich das auch von vielen der anderen Tage nicht wusste. Ich meine den 28. April, den Tag gegen Lärm oder International Noise Awareness Day. Als ich las, dass es einen solchen Tag gibt, fiel mir ein, dass ich vor vielen Jahren ein Hörspiel von Heinrich Böll hörte, in dem es um einen Ruheverkäufer ging, der als Vertreter von Tür zu Tür zog. Eine absurde Idee: Wenn Ruhe eine Ware wäre, könnte die Welt vielleicht ruhiger werden. Es würden dann Standorte fit gemacht für den Wettbewerb um mehr Ruhe, Steuern würden gesenkt, um mehr Ruhe herzustellen. Die Städte würden anders geplant, um eine höhere Aufenthaltsqualität hinzubekommen. Kriege könnten nicht geführt werden, weil sie mit all ihren Panzern und Flugzeugen zu laut sind. Selbstverständlich gibt es andere Gründe, militärische Aktivitäten zu unterlassen. Aber auch der Lärm kann ja ein Grund sein. Denn Lärm erzeugt Krankheiten, reizt die Nerven, lässt die Herzfrequenz steigen, schädigt die Ohren, erschwert Gespräche im Café, beeinträchtigt den Alltag zu Hause oder auf der Straße. Am Ende tötet Lärm – jedes Jahr Hunderte und Tausende.

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Es ist nervig, wenn Nachbarn in der Nacht die Musik aufdrehen, wenn im Ruhewagen der ICEs am Handy plötzlich jemand ganz laut erzählen muss, was er bei einer Geschäftsverhandlung erzielt hat. Vor allem ist es der Verkehrslärm, dem man sich nicht entziehen kann. Eine der Hoffnungen, die sich an E-Mobilität knüpfen, werden noch auf Jahrzehnte enttäuscht: dass die Fahrzeuge ruhig durch die Städte bewegt werden. Denn breit praktizierte Petro-Maskulinität meint nicht nur Männer, die unbedingt einen Verbrennungsmotor im Auto benötigen, sondern auch solche, die mit akustischen Gewaltgebärden drohen, indem sie mit hochgetunten Autos Lärm erzeugen: durch brüllende, knatternde, nachzündende Motoren.

Eine Geschwindigkeitsreduktion, Verkehrskontrollen durch Lärmblitzer würden helfen. Aber nicht denen, die Opfer eines besonderen Freizeitvergnügens sind: der Autorennen auf städtischen Straßen oder der Ausflüge in Gebirge mit kurvenreichen Straßen. Hersteller finanzieren aus Werbegründen solche mehrtägigen Motorradtouren großer Gruppen von Männern durch die Gebirge. In den Mittelgebirgen und Alpen entstanden in den vergangenen Jahren an vielen Orten Initiativen gegen die Lärmbelästigung durch Biker.

Ruhe ist ungleich verteilt. Sozial sowieso, aber auch politisch. Wenn Menschen auf den Straßen protestieren, kommt eine laute Polizei, um mit einem gewaltigen Aufwand von Fahrzeugen und Fluggerät für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Darauf, dass es einmal ruhiger zugeht, warten wir auch Jahrzehnte nach Heinrich Böll immer noch. Die Welt ist nicht nur zu hell, sie ist auch zu laut. Friede hat auch diesen versöhnenden Aspekt der Ruhe.

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