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Die Bank gewinnt immer
Glücksspiel ist eine gesellschaftliche Leitmetapher geworden, meint Leo Fischer
Glücksspiel ist längst mehr als eine Branche – es ist die heimliche Logik unserer Zeit. Wo Arbeit, Solidarität oder nur eiskalt neoliberale Vernunft Leitbilder gewesen sein mögen, regiert heute der algorithmische Zufall. Keine Fußgängerzone, in der die Ruinen des Einzelhandels nicht von Sportwettenanbietern und Casinos bezogen werden. Die Branche fährt Rekordgewinne ein, nicht trotz, sondern wegen der großen Krisen. Als in der Pandemie die Hoffnungslosigkeit um sich griff, stürmten die Menschen die digitalen Spielhöllen – und die Konzerne lernten: Je prekärer die Verhältnisse, desto sicherer das Geschäft.
Mit den Übergewinnen kauft sich die Industrie nun Legitimität. Ehemalige Sportidole werben für »verantwortungsvolles Zocken«, Lobbyist*innen schmieren Parlamente mit »Hintergrundgesprächen«. Die Marketingmaschine hat es geschafft, Abhängigkeit als »Spaß« und Ruin als »persönliche Verantwortung« umzudeuten. »Neue Regierung, neues Glück«, frohlockt ein Branchenportal angesichts der schwarz-roten Koalition – und meint damit: weniger Regeln, mehr Spieler*innen. Dass selbst lasche Maßnahme wie das 1000-Euro-Limit oder das Verbot zu vieler Simultanspiele hier als »Existenzbedrohung« bejammert werden, offenbart den Zynismus des Systems.
Während Alkoholiker*innen oder Crack-Konsument*innen sichtbar straucheln, vollzieht sich der Glücksspielruin unsichtbar – in App-Logs und nächtlichen Kreditkartenabrechnungen. Die Opfer verschwinden hinter Werbeversprechen von »Gewinnchancen« und »Bonusaktionen«. Doch die Algorithmen wissen genau, wann sie Verluste in »Beinahe-Gewinne« umdeuten müssen, um die nächste Einzahlung zu triggern: Neuro-Marketing meets digitale Ausbeutung. In ihrer ganzen Tiefe werden diese Techniken wohl von keiner Aufsichtsbehörde durchschaut.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft
Der gesellschaftliche Widerstand ist gering. Selbst in progressiven Kreisen gelten Rubbellose und Sportwetten als kultiges, irgendwie sogar »proletarisches« Hobby; auch Kryptowährungen werden ja als »Freiheit vom System« verteidigt, oder man spekuliert, kraft materialistisch geschulter Vorhersagekraft, ein bisschen mit Daytrading – die Gewinne fließen ja in garantiert solidarische Projekte.
Glücksspiel ist indes die gesellschaftliche Leitmetapher geworden. Die Illusion von Kontrolle (»Ich spiele ja clever!«) tarnt, dass wir alle nur noch Spielmarken in einem System sind, das auf unseren Verlust optimiert ist. Cleverness ersetzt Gerechtigkeit: prekäre Jobs, deregulierte Märkte, Altersvorsorge – alles Roulette. Die Gewinner*innen prahlen mit ihrer »Spielerweisheit«, die Verlierer*innen sind »selbst schuld«. Die Unterwerfung unter die algorithmische Blackbox, die scheinbar unergründlich gibt und nimmt, ersetzt Gottergebenheit. Die schreiende Irrationalität der Verhältnisse – ob irgendwo ein Werk aufmacht oder schließt, entscheiden Zocker – wird rational, wo Glücksspiel institutionalisiert wird – in Deutschland über die Aktienrendite, in den USA über Stablecoin-Gesetze. Denn die Branche will sich selbst natürlich nicht aufs Glück verlassen – dass die Bank immer gewinnt, regelt demnächst auch ein Bundesgesetz.
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