Genozid: Entscheidend ist die Intention

Aert van Riel geht in »Genozid« der Frage nach: Was unterscheidet Kriegsverbrechen von Völkermord? Ein Auszug aus dem Buch, das Ende Mai erscheint

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 6 Min.
Eine bosnische Muslima trauert an der Genozid-Gedenkstätte in Srebrenica.
Eine bosnische Muslima trauert an der Genozid-Gedenkstätte in Srebrenica.

An vielen Orten der Welt demonstrieren Menschen angesichts der Zerstörungen im Gazastreifen und des schrecklichen Leids der palästinensischen Zivilbevölkerung gegen den Krieg. Immer wieder ist dort zu hören, dass der Genozid, den Israel begehe, gestoppt werden solle. Der Internationale Gerichtshof hat nach einer Klage von Südafrika gegen Israel ein Verfahren wegen des Verstoßes gegen die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen eingeleitet und sieht Anhaltspunkte sowie einen plausiblen Anfangsverdacht dafür, dass dieser Vorwurf stimmt.

Die südafrikanischen Kläger beziehen sich auf das Ausmaß der Gewalt der israelischen Streitkräfte, auf die fehlenden oder unzureichenden Lieferungen von Lebensmitteln und weiteren Hilfsgütern sowie auf menschenverachtende Aussagen aus dem mit rechtsradikalen Politikern gespickten Kabinett von Regierungschef Benjamin Netanjahu sowie weiterer israelischer Politiker und Militärs über die Palästinenser im Gazastreifen.

Folgt man der Argumentation der Gerichtsurteile zu Srebrenica, müssten ethnisch beziehungsweise rassistisch motivierte Tötungen in einer großen Zahl immer als Völkermord eingestuft werden.

Der Krieg hat eine komplexe Vorgeschichte, ist aber auch eine Reaktion auf das Massaker und die Geiselnahmen der Hamas und ihrer Verbündeten auf israelischem Staatsgebiet am 7. Oktober 2023. Die Beweise für israelische Kriegsverbrechen sind erdrückend, aber es ist weitaus schwieriger, einen Völkermord nachzuweisen. Ein Genozid ist ein Großverbrechen, das von Staaten oder von militärischen Gruppierungen, die über kein international anerkanntes Staatsgebiet verfügen, begangen wird. Völkermorde werden geplant, organisiert, scheinlegitimiert und mit einer Vielzahl von Helfershelfern durchgeführt.

In der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen, die 1948 von der Generalversammlung beschlossen wurde, werden Genozide als Taten definiert, die »in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Entweder durch Tötung, Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden, durch die Auferlegung von zerstörerischen Lebensbedingungen, durch Maßnahmen der Geburtenverhinderung oder durch die gewaltsame Überführung von Kindern in eine andere Gruppe«.

Diese Definition der Uno ist sehr weit gefasst. Ein Völkermord bemisst sich nicht unbedingt an der Anzahl der Opfer, sondern an der Intention, eine Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten. Die Genozidkonvention der Uno war eine direkte Folge der Shoah, deren Singularität in der industriellen Vernichtung von Menschenleben und darin besteht, dass es für die Juden keine Möglichkeit gab, durch Verleugnung ihrer Herkunft und Religion oder durch Kollaboration mit den Tätern der Tötungsmaschinerie der Nazis zu entkommen. Dieses Schicksal teilten sie mit den Sinti und Roma.

Schwere Verstöße gegen das Völkerstrafrecht wurden in den vergangenen Jahrzehnten von verschiedenen internationalen Gerichten geahndet. In mehreren Urteilen gegen die Täter und politisch Verantwortlichen wurde etwa das Massaker von Srebrenica im Jahr 1995 an bis zu 8000 muslimischen Männern und Jungen als Völkermord eingestuft. In akademischen Kreisen ist die Frage, ob in Srebrenica ein Völkermord stattgefunden hat, nicht eindeutig beantwortet worden. So kritisierte William Schabas, ehemaliger Präsident der International Association of Genocide Scholars, ein Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien von 2003: »Es wäre konsistenter und kohärenter gewesen, zu dem Schluss zu kommen, dass Srebrenica kein Völkermord war.« Er bezeichnete das Vorgehen der bosnischen Serben gegen die Muslime als »ethnische Säuberungen«, die ein Warnzeichen für einen bevorstehenden Völkermord seien.

Folgt man der Argumentation der Gerichtsurteile zu Srebrenica, müssten ethnisch beziehungsweise rassistisch motivierte Tötungen und sogenannte Säuberungen in einer großen Zahl immer als Völkermord eingestuft werden. Jedenfalls hielt es das Jugoslawien-Tribunal nicht für notwendig, dass für die Annahme einer Zerstörungsabsicht der Nachweis eines »Gesamtplans« zur Ermordung der bosnischen Muslime erbracht werden musste, zumal ein solcher Plan auch nicht existierte.

Die Rechtsprechungen zu Srebrenica und die daraus folgende juristische Definition dessen, was als Völkermord zu verstehen ist, waren einigen westlichen Staaten durchaus dienlich, um ihre militärische Interventionspolitik in unterschiedlichen Teilen der Welt wie im Kosovo 1999 und in Libyen 2011 als angeblich präventive Maßnahmen gegen genozidale Gewalt zu rechtfertigen. Doch nun könnten sich die Folgen gegen einen ihrer Verbündeten wenden, nämlich gegen Israel.

Israelische Politiker sind sich bewusst, dass die Gerichtsentscheidungen zu Srebrenica Präzedenzfälle waren, die Auswirkungen auf die juristische Bewertung des israelischen Vorgehens in den Palästinensergebieten haben können. Der israelische Botschafter in Belgrad, Yahel Vilan, teilte dem russischen Sender Sputnik im Mai 2024 mit, er teile die Genozid-These von Srebrenica nicht. Denn mit dieser Behauptung werde die Bedeutung des Begriffs Völkermord deutlich abgeschwächt, so Vilan. Später stellte er klar, dass Israel den Begriff »Genozid« niemals für das akzeptiert habe, was in Srebrenica geschehen sei. Es habe dort vielmehr ein sehr schweres Kriegsverbrechen stattgefunden.

Neben der südafrikanischen Klageschrift existieren unter anderem ein Bericht der UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese und von Amnesty International, in denen Israel ein Genozid an der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen vorgeworfen wird. Beide beziehen sich auch auf Urteile in Gerichtsverfahren zum Massaker in Srebrenica. Außerdem betont Albanese, dass genozidale Absichten und Praktiken integraler Bestandteil der Ideologie und der Prozesse des Siedlerkolonialismus seien, wie die Erfahrungen der amerikanischen Ureinwohner in den USA, der First Nations in Australien oder der Herero in Namibia zeigten. Dies sieht Albanese auch für die palästinensischen Gebiete als gegeben an. Denn die israelische Siedlerbewegung wolle den Gazastreifen wieder kolonisieren. Einen mächtigen Verbündeten haben sie seit Anfang 2025 in US-Präsident Donald Trump.

Am 21. November 2024 erließ die zuständige Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs im Zusammenhang mit der »Situation Palästina« einstimmig drei Haftbefehle. Durch sie werden nicht nur die verheerenden Auswirkungen des Kriegs der rechtsradikalen israelischen Regierung offensichtlich, sondern auch die menschenverachtenden Maßnahmen der Hamas. Die Haftbefehle richteten sich gegen Mohammed Deif, den obersten Befehlshaber des militärischen Flügels der Hamas, sowie gegen Benjamin Netanjahu und den damaligen israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant. Mohammed Deif wurden vor allem wegen der Taten am 7. Oktober 2023 Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen nach Artikel 7 und 8 des Römischen Statuts vorgeworfen. Hervorzuheben sind dabei Vorwürfe der sexualisierten und geschlechtsbezogenen Gewalt gegen Frauen und der Vorwurf des Menschlichkeitsverbrechens der Ausrottung. Das Verbrechen der Ausrottung weist mit der Voraussetzung des vorsätzlichen Auferlegens von Lebensbedingungen, die geeignet sind, die Vernichtung eines Teiles einer Bevölkerung herbeizuführen, Parallelen zum Völkermord-Tatbestand auf. Zu einem Verfahren gegen Mohammed Deif wird es aber nicht kommen. Er wurde im Sommer 2024 bei einem israelischen Luftangriff getötet. Die lebenden israelischen Beschuldigten müssten, wenn sie in einen Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofs reisen, eigentlich, wie in dem Statut festgelegt, verhaftet und dem Gerichtshof überstellt werden.

Aert van Riel: Genozid. PapyRossa Verlag, 142 S., geb., 12 €.

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