An die Arbeit!

Nicole Mayer-Ahuja kommentiert das Vorhaben der Bundesregierung, die Arbeitszeit der Beschäftigten zu erhöhen

Eine Reinigungskraft in einem Kleidungsgeschäft in der Köllner Neumarktgalerie
Eine Reinigungskraft in einem Kleidungsgeschäft in der Köllner Neumarktgalerie

In Deutschland wird nicht lang und flexibel genug gearbeitet. So sieht das die neue Bundesregierung. Man reibt sich verwundert die Augen. Berichten Beschäftigte doch regelmäßig über Hetze, Überforderung und die Unmöglichkeit, überhaupt gute Arbeit zu leisten, ohne über die eigenen Grenzen zu gehen. Nicht genug Zeit, um Kranke zu pflegen; permanente Noteinsätze im Supermarkt; Pfusch in der Industrie … oder eben immer schneller, intensiver und regelmäßig länger arbeiten. Schluss mit dem Gejammer, tönt es aus dem Kanzleramt: »Entscheidend ist«, meint Kanzler Friedrich Merz, »dass wir die Mentalität wieder ändern, dass für uns Arbeit nicht länger die Unterbrechung unserer Freizeit ist«.

Wen meint er mit »wir«? Jene Vollzeitbeschäftigten, die gegenüber der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin angaben, pro Woche im Schnitt (!) fünf Stunden länger zu arbeiten als im Vertrag steht? Die 41 Prozent, die dem DGB-Index »Gute Arbeit« zufolge sehr häufig oder oft nach der Arbeit zu erschöpft sind, um sich um private oder familiäre Angelegenheiten zu kümmern? Offenkundig sind die Arbeitserfahrungen von Beschäftigten nicht mit jenen neoliberalen Ideologien vereinbar, die einem Ex-Blackrock-Manager schlüssig erscheinen.

Konfliktfeld Arbeit
Nicole Mayer-AhujaFoto: wikimedia

Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für die Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Universität Göttingen. Sie forscht zu Veränderungen der Arbeitswelt, auch in transnationaler Perspektive. Außerhalb der Wissenschaft ist sie linken Gewerkschafter*innen seit Langem bekannt, eine breite Öffentlichkeit erreichte sie 2021 mit ihrem Sammelband »Verkannte Leistungsträger:innen« über Fahrradkuriere, Altenpflegerinnen oder Erntehelfer, den sie zusammen mit dem Soziologen Oliver Nachtwey herausgegeben hat. Mayer-Ahuja ist die erste Akademikerin in ihrer Familie. Aktuell untersucht sie Dynamiken von Arbeit in der Klassengesellschaft. Kapitalismus beruht auf Differenz und Konkurrenz - das prägt auch die Beziehungen zwischen Kolleg*innen, den Geschlechtern oder Einheimischen und Migrant*innen. Was bringt die Arbeitenden auseinander? Und welche gemeinsamen Erfahrungen mit Lohnarbeit lassen sich trotz alledem für eine solidarische Politik nutzen, die dazu beiträgt, dass das Verbindende (zeitweise) schwerer wiegt als das Trennende? Ihr neues Buch »Klassengesellschaft akut«  erscheint im September bei C.H. Beck.

Welche Probleme stellen sich – welche Lösungen werden vorgeschlagen? Exzessive Mehrarbeit etwa entsteht, wenn Arbeitszeit nicht erfasst wird. Arbeitet, wann und so lange ihr wollt, heißt es. Hauptsache, das Projekt wird fertig. Zu wenige Leute, zu knappe Deadline: Dann müssen Feierabend und Wochenende eben warten. Der Europäische Gerichtshof hat 2019 entschieden: Jede Minute Arbeitszeit muss dokumentiert und bezahlt werden. Was sagt der Koalitionsvertrag? Arbeitszeiterfassung soll »unbürokratisch« geregelt werden, Vertrauensarbeitszeit bleibt ausgenommen.

Der angekündigte Übergang von »einer täglichen [zu] einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit« heißt konkret: Schluss mit dem hart erkämpften Acht-Stunden-Tag – und mit einer Mindestruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen, auf die man bestehen kann, wenn Vorgesetzte »Arbeiten ohne Ende« verlangen. Steuerfreie »Zuschläge für Mehrarbeit« werden versprochen. Aber was bringt das, wenn viele Überstunden ohnehin nicht bezahlt werden? Schon heute entspricht die Zahl aller geleisteten Überstunden rund einer Million Vollzeitarbeitsplätzen – bei wieder steigender Arbeitslosigkeit. Die meisten Beschäftigten wünschen sich das Gegenteil: kurze Vollzeit. Doch selbst die IG Metall rückt jetzt vom Ziel einer Vier-Tage-Woche ab.

Zum Thema: Arbeit in Berlin: Teufelskreis Personalmangel – Die Hälfte der Berliner Beschäftigten spürt Auswirkungen von unbesetzten Stellen am Arbeitsplatz in hohem oder sehr hohem Maß

Dabei heißt mehr Arbeit auch, dass sich die »Reproduktionskrise« verschärft: Wer betreut Kinder, wer sorgt für Alte, wie stellt man Erholung sicher, damit nicht noch mehr Beschäftigte krank werden? Stimmt – für Reproduktion sorgen ja die Frauen, die in Teilzeit oder »Minijobs« arbeiten! Dass sie in Deutschland sehr viel weniger Arbeitsstunden leisten als anderswo in der EU, ist übrigens der Grund für jenen »Skandal«, den das Institut der deutschen Wirtschaft aufgedeckt hat: »Griechen arbeiten 135 Stunden im Jahr mehr als Deutsche«. Den Drückeberger*innen muss man wohl Beine machen. Wie den Griech*innen durch drastisch sinkende Löhne im Zeichen von Austeritätspolitik? An die Arbeit: Kämpfen wir für bessere Zeiten!

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