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Oberlinhaus in Potsdam: Mehr als ein Einzelfall?
In einer Wohnstätte für behinderte Menschen soll eine Pflegerin mehrere Insassen misshandelt haben
Hat eine Pflegerin aus Menschenverachtung oder wegen Überlastung mehreren behinderten Menschen Gewalt angetan? Das ist Frage eines Verfahrens am Amtsgericht Potsdam, das am Dienstag startete.
»Menschen bilden, begleiten und behandeln – seit über 150 Jahren widmen wir uns aus christlicher Verantwortung dieser Aufgabe«, steht auf der Internetseite des Oberlinhauses. Es ist ein sozialer Träger, bei dem deutschlandweit 2200 Menschen arbeiten. Eine der Einrichtungen ist das Eckard-Beyer-Haus in Potsdam, eine Wohnstätte für Erwachsene mit Sinnesbehinderung. Seit mehreren Jahren arbeitete dort Esther K. Sie wird beschuldigt, verschiedene Klient*innen in acht Fällen grob bis schwer misshandelt zu haben. Die Anklage wirft der 57-jährigen K. vor, Menschen »gequält«, »geschlagen« und »bedroht« zu haben. Außerdem soll sie mehreren Menschen ihre »Macht demonstriert« haben.
Einen der Vorfälle gab es im Oktober 2023: Ein taubblinder Mann mit Parkinson nahm ein Bad. Die Anklage wirft K. vor, den Mann geschlagen und angeschrien zu haben, nachdem er sich nicht aus der Wanne holen ließ. Der Mann habe sich daraufhin auch selbst geschlagen und gebissen. Zu einem anderen Zeitpunkt soll sich der Mann am Esstisch unter seinem T-Shirt an die Brustwarzen gefasst haben. Daraufhin habe K. ihm auf die Hände geschlagen.
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Ebenfalls im Oktober 2023 soll K. beim Abendessen einem taubblinden Mann mit Gewalt Essen eingeflößt haben. Dabei kann der Mann durchaus selbst essen. Er kann auch zeigen, wann er essen möchte und wann nicht. Eine Mahlzeit auslassen darf er auch. All das bestätigt K. vor Gericht.
Eine stumme Person mit Autismus soll sich vor dem gemeinsamen Abendbrot Essen aus der Küche genommen haben. K. soll sie deswegen beleidigt, geschubst und in ihr Zimmer gesperrt haben. Außerdem soll sie ihr ihre Mahlzeit verwehrt haben.
Esther K. streitet nicht rundweg ab, dass es bei allen acht Fällen zu Handgreiflichkeiten gekommen sei und dass sie laut werden könne. Im Falle des Mannes mit Parkinson sagt sie jedoch aus, sie habe ihn nur »geklatscht« und der Hall ihrer Stimme sei im Bad stärker. Mithilfe eines Wannenlifters hätte sie ihn vielleicht einfacher heben können. Diesen gab es jedoch nicht. Im Fall des Mannes, dem sie Essen aufzwang, sagt sie: »Um einen Anfang für ihn zu finden«, habe sie ihm ein Stück Brot zum Mund geführt. Im Falle des Autisten streitet sie ab, ihn geschlagen zu haben. Der Mann habe gern gegessen und dabei viel gekleckert. Um »nicht mehr Essen zu vergeuden«, habe sie ihm den Teller weggenommen. Eingesperrt habe sie ihn nicht.
Eine 22-Jährige, die am Oberlinhaus eine Pflegeausbildung absolviert, schildert als Zeugin ihre Beobachtungen. »Ich war geschockt«, sagt sie über den Fall des Mannes in der Badewanne. Die Schreie von K. nennt sie »ohrenbetäubend«. Auf Nachfrage des Richters, ob es sich bei den Handlungen von K. um ein »Impulsgeben« gehandelt haben könne, sagt sie: »Das war Schlagen.« Den Menschen mit Autismus soll K. »alte Drecksau« genannt haben.
»Wir sind da, um den Menschen zu assistieren und sie zu begleiten – und nicht Teil einer Erziehungseinrichtung mit Gewalt«, sagt die Auszubildende. Auf die Frage, warum sie mit der Meldung der Fälle ein paar Monate gewartet habe und ob sie als Berufsanfängerin gewisse Situationen anders bewerte, erwidert sie: »Ich war in Schock. Heute würde ich es sofort melden.«
»Es ist wichtig, dass diese Taten nicht als Einzelfall abgetan werden!«
Anti-ableistische Gruppe
Der Prozess wird von einer antiableistischen Gruppe begleitet. »Es ist wichtig, dass diese Taten nicht als Einzelfall abgetan werden!«, heißt es von ihr. 2021 hatte eine andere Pflegerin vier behinderte Menschen im Potsdamer Oberlinhaus getötet. »Man tötet nicht nur aus Überlastung, sonst hätten die vielen Menschen, die in schlechten Arbeitsverhältnissen ausgebeutet werden, schon lange ihre Chefs umgebracht«, so die Gruppe. »Man tötet, weil man das Leben der anderen Person als unwert empfindet!« Ableismus sei genau das: das Leben von behinderten Menschen als weniger wert als das eigene zu betrachten. Die Gruppe fordert, die verübten Taten als strukturelle Gewalt anzuerkennen.
Die Vernehmung durch den Richter empfinden einige Aktivist*innen, die den Prozess verfolgen, als »schlimm«. Denn der Richter sagt zu Beleidigungen durch Esther K.: »Aber das können die Leute ja nicht hören.« Es fällt den Aktivist*innen außerdem auf, dass er die Angeklagte mehrfach darauf hinweist, dass Arbeitsbedingungen in der Pflege prekär sind. K. macht ihre Arbeitsbedingungen jedoch selten zum Thema. »Klar bin ich manchmal überfordert, aber definitiv lasse ich das nicht an den Bewohnern aus«, sagt sie. Ein Aktivist bemängelt, dass vor Gericht mehrfach der Ausdruck »leidet an« in Zusammenhang mit den Sinneseinschränkungen oder Entwicklungsstörungen der Klient*innen verwendet wird. »Klar ist die Pflege unterbesetzt«, sagt er. »Aber Ableismus als zusätzlicher gesellschaftlicher Faktor wird bei dem Fall vor Gericht nicht gesehen.«
Eine Aktivistin hat selbst am Potsdamer Oberlinhaus gearbeitet. »Es gibt eine falsche Haltung, die den Angestellten vermittelt wird«, sagt sie »nd«. Vieles, was sie im Eckard-Beyer-Haus in Potsdam beobachtet habe, erinnere sie an »Tierhaltung«.
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