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Film »Blindgänger«: »Bomben hören nie auf zu fallen«

Regisseurin Kerstin Polte verarbeitet in »Blindgänger«, einem Film über eine Bombenentschärfung, eigene transgenerationale Traumata

  • Interview: Susanne Gietl
  • Lesedauer: 6 Min.
In »Blindgänger« hat jeder seine eigene kleine Bombe zu entschärfen.
In »Blindgänger« hat jeder seine eigene kleine Bombe zu entschärfen.

In »Blindgänger« schlummert im Hamburger Schanzenviertel eine Bombe in der Erde. Das Gebiet muss evakuiert werden, damit sie entschärft werden kann. Welche Berührungspunkte haben Sie mit diesem Thema?

Mein Vater wurde 1944 auf der Flucht aus Schlesien geboren. Er hat seinen Vater nie kennengelernt, weil dieser nie aus dem Krieg zurückgekommen ist. Auch wenn in meiner Familie nie über den Krieg, die Flucht und alles, was meine Oma allein mit fünf kleinen Kindern durchlebt hat, gesprochen wurde, gibt es auffällig viele ähnliche Muster, die sich in meine Generation (die der Kriegsenkelkinder) übertragen haben, die ich mit meinen Cousinen teile – ohne dass wir zusammen aufgewachsen wären. Ich habe dann angefangen, über Familienaufstellungen, Therapien, Recherchen und Interviews, den transgenerationalen Traumata auf die Schliche zu kommen, um diese aufzuarbeiten und zu heilen. Viele Menschen zucken bei Sirenen zusammen, obwohl sie niemals im Krieg waren. Als ich hörte, dass ein Seniorenheim wegen einer Weltkriegsbombe evakuiert werden musste, wurde ich hellhörig und dachte: Wie absurd, vielleicht ist diese Bombe den Menschen schon einmal in ihrem Leben begegnet.

In »Blindgänger« lassen Sie all Ihre Eindrücke und Ihr Wissen nun einfließen.

Ich wollte einen Film erzählen, in dem durch eine große Bombe viele kleine Bomben bei den Menschen selbst ausgelöst werden. Sie führen dazu, dass Menschen, die sich sonst nicht begegnet wären, aufeinandertreffen und einen Moment miteinander verbringen. Es geht um Hoffnung im Ausnahmezustand und darum, was uns über Generationen, Herkünfte und Biografien hinweg verbindet. Wir tun immer so, als wäre der Krieg sehr weit weg. Aber der Krieg hat immer noch Auswirkungen. Gesellschaftlich, aber auch ganz persönlich. Und die Bomben hören nicht auf zu fallen…

Wie haben Sie sich mit dem Thema Bomben auseinandergesetzt?

Ich habe mich mit dem ganzen Ausmaß und der ganzen Perversion des Krieges beschäftigt. Man stelle sich nur vor: Es gibt Menschen, deren einzige Tätigkeit es ist, darüber nachdenken, wie man am effizientesten andere Menschen töten kann! Diese Bomben hatten damals schon allerlei tödliche Fallen, wie Ausbausperren und Langzeitzünder. Langzeitzünder sind maximal tödlich, weil sie später zünden. Erst in dem Moment, wo sich alle in Sicherheit wiegen und wieder aus dem Bunker kommen, explodieren sie. Allein der Fakt, dass es noch 250 000 Blindgänger in Deutschland gibt, die nicht entschärft wurden, ist erschreckend. Ich habe mit verschiedenen Menschen vom Kampfmittelräumdienst (KRD) gesprochen, die uns fantastisch unterstützt haben. Es war unglaublich interessant, auch auf einer psychologischen Ebene mit den Menschen vom KRD zu sprechen: Wie ticken Menschen, die 250-mal im Jahr ausrücken und ihr Leben fast täglich für uns alle aufs Spiel setzen? Der Chef des Kampfmittelräumdienstes Hamburg verabschiedet sich beispielsweise jeden Morgen von seiner Frau als wäre es das letzte Mal. Das sind wirklich beeindruckende Menschen.

Interview

Kerstin Polte, 1975 in Wiesbaden geboren, ist Teil des feministischen Filmemacherinnen Kollektiv r.O.K.S. Ihre Film-Ausbildung absolvierte sie in Kanada, in der Filmklasse der HfG Karlsruhe und an der Zürcher Hochschule der Künste (MA Drehbuch/Regie). Ihr erster Kinospielfilm »Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?« (2018) gewann gleich zahlreiche Preise, darunter den Bayerischen Filmpreis.

Wie realistisch ist die Bombenentschärfung im Film?

Die Details stimmen. Die Schauspieler*innen haben einen Workshop im Bombenentschärfen besucht, und der Kampfmittelräumdienst war bei den Szenen mit der Bombe immer dabei. Wir hatten die Originalanzüge und das Originalequipment (inklusive einer originalen, entkernten Bombe) am Set. Der KRD hat Anne Ratte-Polle (in der Rolle der Lane) gerade auch bei der Hauptszene, der Bombenentschärfung, unterstützt. Wir haben auch den realen, gepanzerten (Entschärfungs-)Container bekommen, in dem sich die Entschärfer bei einer Sprengung aufhalten, falls die Bombe doch explodiert. Nichts ist ausgedacht oder eine Idee der Requisite. Einzig der finale Moment, in dem Lane tatsächlich allein versucht, die Bombe zu entschärfen, ist der Spannungsdramaturgie geschuldet. Normalerweise wären mindestens zwei Menschen an der Bombe.

Wie hat sich das für Sie angefühlt, dem Kampfmittelräumdienst ein etwas anderes, diverseres Bombenentschärfungs- und Evakuierungsteam zu präsentieren? So ein Team besteht in Deutschland nur aus Männern!

Nach der Teampremiere habe ich Michael Hain, den Chef vom Kampfmittelräumdienst Hamburg, gefragt, wie ihm der Film gefallen hat. Er hatte Tränen in den Augen und war sehr berührt. Er hat sich mit Otto (Bernhard Schütz), dem Chef des KRD im Film, sehr verbunden gefühlt, weil ihm Ähnliches passiert ist. Der KRD Hamburg mochte den Film sehr, sie versuchen auch schon lange Frauen für den Beruf zu begeistern. Ich persönlich finde es gut, Vorbilder zu schaffen und Möglichkeiten aufzuzeigen. Ganz im feministischen Sinne: Du kannst nicht werden, was du nicht sehen kannst.

Die Figur des Otto ist besonders. Erst scheint er dem Klischee des alten weißen Mannes zu entsprechen und dann zeigt er eine ganz andere Seite von sich.

Mir haben mehrere Menschen gesagt, dass die Männerfiguren in »Blindgänger« besonders zärtlich sind und dass sie so etwas selten im deutschen Kino sehen. Ich glaube, wir brauchen dringend vielfältige männliche Figuren, die andere Emotionen als Wut ausleben können. Wir haben uns in den letzten Jahren viel (und zu Recht!) um die sehr vernachlässigten und stereotypen Frauenfiguren gekümmert, aber vergessen, dass Männer auch unter dem Patriarchat leiden. Ich finde es toll, zärtliche Männer auf der Leinwand zu sehen.

Otto lernt sein Drag-Ich kennen, Lane liebt Frauen, es kommen auch eine Transperson, zwei schwarze Frauen und ein Flüchtling vor. Das hätte sich leicht wie eine Checkliste anfühlen können, tut es aber nicht. Man spürt, dass Sie die Gesellschaft in all ihrer Diversität abbilden wollen.

Das war auch die Idee. Wir haben auf die Figuren geschaut und uns gefragt, was es bedeutet, wenn ich eine Person aus einer marginalisierten Gruppe besetze und welche Dimensionen diese Herkunft ausmacht. Wir wollten sie nicht normalisieren, nicht problematisieren, sondern komplexe und vielschichtige Figuren entwickeln. Wir haben in Proben und vielen Gesprächen bis in die kleinste Nebenfigur versucht, in die Schichten der Figuren vorzudringen: Zum Beispiel bei den beiden Polizist*innen, die nur zwei kleine Szenen haben. Oder mit Kübra Sekin, die eine Ärztin, die im Rollstuhl sitzt, spielt. Bei Thelma Buabeng (die Chefin der Feuerwehr Hamburg) und Haley (die Betriebspsychologin) haben wir ihre Herkunft im Küchengespräch gestreift und die rassistische Frage »Woher kommen Sie eigentlich?« ad absurdum geführt. Die Antwort lautet dann eben »Schanze« und »Poppenbüttel«. Generell haben wir uns immer überlegt: Wo ist das Klischee und was würden wir lieber sehen? Wo ist das überraschende Momentum? Diversität wird gestreift, spielt eine Rolle, ist aber nicht das zentrale Element oder Thema.

Generell spielen Sie mit Erwartungen, die Sie erfüllen oder eben nicht erfüllen …

Wenn wir dachten: Eigentlich wollen wir gerade lieber Otto sehen, wie er einen Hasen streichelt als die tickende Bombe, dann haben wir das gemacht. Ich liebe Ottos Figur und wie Bernhard (Schütz) ihn spielt, obwohl sie auf den ersten Blick sehr wenig mit mir gemein hat, aber ich empfinde unfassbar viel Empathie mit ihm. Ich brauche keine 50-jährige queere Frau, um in einen Film eintauchen zu können, weil es immer um Empathie geht, und die können wir für alle Menschen und Lebewesen empfinden.

»Blindgänger«: Deutschland 2024.
Regie und Drehbuch: Kerstin Polte. Mit: Anne Ratte-Polle, Haley Louise Jones, Bernhard Schütz. 95 Minuten, Start: 29. Mai.

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