»Lehrer verschieben gern die Verantwortung auf die Schüler«

Anke Langner über eine Schule ohne Noten und darüber, wie unser Schulsystem Menschen darauf vorbereitet, nicht lernen zu wollen

Noten sind Quatsch. Aber wenn sie schlecht gemacht sind, können Worturteile sogar mehr wehtun.
Noten sind Quatsch. Aber wenn sie schlecht gemacht sind, können Worturteile sogar mehr wehtun.

Ich möchte Ihnen eine Zeugnisbeurteilung zum Abschluss der dritten Klasse vorlesen: »Christian arbeitet selbstständig. Er kann über einen längeren Zeitraum ausdauernd arbeiten. Christian arbeitet zügig. Zusätzliche Arbeitsaufträge, die er zeitlich gut bewältigen könnte, bearbeitet er ungern. Christian arbeitet anweisungsgetreu und gründlich.« Haben Sie eine Idee, von wann sie ist?

Sie könnte von jetzt sein, aber auch aus den 80ern.

Genau, die Beurteilung ist von 1989, aus Niedersachsen. Sie lachen. Wie finden Sie sie?

Sie zeigt genau das Problem: Hier ist einer Person etwas zugeschrieben worden, ohne dass man weiß, warum sie etwas nicht tut und ob das wirklich etwas mit seiner Person zu tun hat. Wertschätzende, anerkennende Rückmeldung würde so nicht formuliert sein. Sie zielt auf Situationen, auf Prozesse und nicht auf den Menschen als Persönlichkeit. Manchmal können Worturteile mehr wehtun als eine Note.

Die Sätze wirken wie standardisierte Satzbausteine.

Standardisierung ist gar nicht das Problem. Es braucht auch für Wortrückmeldungen bestimmte Kriterien, die zu erfüllen sind, sonst wird es beliebig. Ein Worturteil soll den Schülern helfen, ihr Arbeitsverhalten oder ihre Lernprozesse zu verbessern. Doch das hier ist nur eine Aneinanderreihung von Eigenschaften, ohne Verbindung zum Lernprozess. Und dass ein Kind bestimmte Sachen nicht tun will, ist ein pädagogisches Problem und kein Problem des Kindes. Lehrkräfte verschieben gern die Verantwortung für den Lern-Prozess auf die Schüler.

Interview

Anke Langner lehrt als Professorin für Erziehungswissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Sie hat ein Konzept für eine Gemeinschaftsschule mitentwickelt, in der neue Formen des – auch inklusiven – Lehrens und Lernens entwickelt und erforscht werden sollten. Dieses Konzept wird als gemeinsamer Schulversuch von Universität und Stadt unter Langners wissenschaftlicher Leitung in die Praxis umgesetzt: Die Universitätsschule Dresden wurde 2019 als öffentliche und kostenfreie Grund- und Oberschule unter einem Dach eröffnet. Jetzt ist es eine Gemeinschaftsschule, die bis zum Abitur führt. Derzeit lernen hier etwa 850 Kinder. Im Schuljahr 2023/24 legten die ersten Schülerinnen und Schüler die Hauptschulprüfung ab. Im laufenden Schuljahr 2024/25 folgt der erste Jahrgang mit Haupt- und Realschulprüfung.

Welches Bild von Schule spricht aus so einer Art von Rückmeldung?

Es ist eine stark defizitorientierte Sicht. Der Schüler hat sich anzupassen, es geht nicht darum zu verstehen, warum es für ihn nicht sinnhaft ist, bestimmte Dinge zu tun. Das ist die klassische Idee, die Sie bis heute in vielen Schulen finden: Der Lehrer hat eine Erwartungshaltung an die Schüler und diese haben dieser Erwartungshaltung zu entsprechen.

Was ist falsch daran?

Ich würde immer sagen: Der Lehrer hat einer Erwartungshaltung zu entsprechen. Er hat die Aufgabe, alle Barrieren, die den Lernprozess eines Kindes stagnieren lassen, aus dem Weg zu räumen. Dafür muss er erst mal die Barrieren verstehen, aber das ist nicht die Verantwortung des Kindes, sondern des Lehrers.

Wie würde die Rückmeldung bei Ihnen aussehen?

Das Feedback wäre eher: Ich habe beobachtet, dass du bestimmte Aufgaben nicht so gern machst. Und dann kann man darüber mit dem Schüler sprechen. Aber das ist dialogisch und steht nicht so auf einem Zeugnis. Ab dem vierten Schuljahr beginnen bei uns an der Universitätsschule Dresden – auch wenn es sich furchtbar anhört – Ziel- und Bilanzgespräche. In ihnen wird gemeinsam bestimmt, was sich der Schüler für die nächsten sechs Wochen vornimmt. Und nach sechs Wochen bespricht man: Was hast du denn geschafft? Was ist dir gut gelungen? Was findest du herausfordernd? Was müsstest du anders machen? Wo brauchst du mehr Unterstützung? Täglich wird dieser Prozess durch ein Logbuch begleitet, in dem die Tagesziele formuliert und am Ende des Tages auch reflektiert werden.

Sie sehen alle Verantwortung für den Lernprozess beim Lehrer: Sind Schüler ab einem bestimmten Alter aber nicht auch mitverantwortlich?

Das sind sie. Seit der Corona-Pandemie diskutieren wir in der Bildungswissenschaft stark über selbstreguliertes oder selbstorganisiertes Lernen. Nach der Kita könnten Kinder ganz leicht herangeführt werden, denn bis dahin haben sie ja ganz viel gelernt, ohne dass jemand vorne stand und gesagt hat, was man lernen soll. Es gibt ein intrinsisches Motiv zu lernen. Der Mensch will sich die Welt aneignen und setzt sich mit ihr auseinander. Dennoch müssen sie in die Verantwortung für den eigenen Lernprozess hineinwachsen durch pädagogische Begleitung.

Trotzdem gibt es doch auch Kinder, die nicht von sich aus mitmachen.

Ein Schüler, der in einem klassisch lehrerzentrierten Unterricht groß wird, kann das natürlich nicht. Wenn ich Schülerinnen und Schüler zu einem stärker selbst regulierten Lernen führen will, dann muss ich das mit ihnen üben. Natürlich gibt es ganz unterschiedliche Schüler. Manche brauchen sie in den Zielgesprächen nur alle Vierteljahre sprechen, weil sie sehr kontinuierlich etwas be- und verarbeiten. Und dann gibt es Schüler, die brauchen einen wöchentlichen Schubser, um gesagt zu bekommen: Was war der Plan? Wo stehst du jetzt? Warum hast du das noch nicht bis dahin gemacht? Gar nicht vorwurfsvoll, sondern rechenschaftsmäßig. Die Schüler sollen lernen, das zu reflektieren und dann auch abzuleiten, was sie anders machen müssen.

Für sogenannte Brennpunktschulen ist die Umsetzung dennoch schwer vorstellbar.

Brennpunktschule bedeutet ja, dass die Schülerschaft nicht mehr heterogen ist, sondern gentrifiziert. Das ist ein riesiges Problem. Die Universitätsschule ist eine Gemeinschaftsschule und hat mit Absicht einen Querschnitt durch die Gesellschaft, sodass wir sowohl Schülerinnen und Schüler haben, die aus einer Bildungsschicht kommen, die erst mal nicht so viel Interesse am Lernen haben, und dann gibt es noch die klassischen Akademikerkinder. Zudem funktioniert vieles im Lernen gut peer-to-peer und jahrgangsübergreifend. Bei uns werden die Erstklässler von den Drittklässlern an die Hand genommen, das Gleiche passiert bei den vierten und fünften Jahrgängen. Die Kultur des Lernens können Schüler an Schüler viel besser vermitteln, als wenn der Lehrer das immer wieder einfordert. Und dadurch, dass es eine gemischte Gruppe ist, hat der Lehrer mehr Zeit für die Schüler, die es brauchen, weil es andere gibt, die nicht soviel Begleitung brauchen.

Gibt es an Ihrer Schule überhaupt Noten?

Ab der Neunten, wenn die ersten Schulabschlüsse anstehen. Vorher aber nicht. Die Gegenfrage wäre: Wofür braucht man eine Note?

Leichtere Vergleichbarkeit ist ein klassisches Argument.

Aber warum werden unsere Abiture immer besser und unsere Pisa-Ergebnisse immer schlechter? Weil die Benotung immer nur der Maßstab für eine Klasse ist und ein rein subjektives Empfinden der Lehrer. Ein mittelmäßiger Mathe-Schüler ist in einer Klasse mit vielen sehr guten Schülern im unteren Drittel. In einer Klasse, in der es keine Mathespitzen gibt, ist er im oberen Drittel. Die Note ist kein objektives Maß. Um sich sozial einzuordnen, kann man sie benutzen, aber man ordnet sich ja dann auch nur zu seinen 27 Mitschülern ein, nicht im Vergleich zu wirklichen Potenzialen oder zu meinem wirklichen Können.
Der zweite Punkt ist: Die Note ist ein Pauschalurteil. Wenn ich keine Wahrscheinlichkeitsrechnung kann, aber dafür schnell im Kopf rechnen, kriege ich in Mathe vielleicht eine Drei. Aber was sagt diese Zahl aus? Bei uns steht, dass ich die Wahrscheinlichkeitsrechnung nur in Ansätzen beherrsche, aber dass ich zu 100 Prozent Kopfrechnen kann. Wer als Arbeitgeber wissen will, ob ein Bewerber passt, kann doch damit viel mehr anfangen. Diese differenzierte Sichtweise ist aber auch hilfreich für den pädagogischen Prozess. Was weiß ich denn als neuer Mathelehrer, wenn jemand eine Vier hat? Ich kann noch nur verstehen, wo ich ansetze, wenn ich genauer weiß, wo das Problem liegt. Auch in der Geometrie!

Das klingt nach einem sehr hohen Dokumentationsaufwand. Setzen Sie das mit dem üblichen Personalschlüssel um oder haben Sie als Modellschule eine Sonderausstattung?

Wir haben genauso viele Lehrer und Erzieher wie eine Regelschule. Aber wir arbeiten mit einer digitalen Lern- und Schulmanagement-Software, die uns ein tschechisches Start-up entwickelt hat. Da drückt man am Ende nur noch auf den Knopf und sagt: Bitte daraus ein Zeugnis erstellen! Ehrlicherweise muss ich aber auch sagen: Das ist alles noch nicht perfekt, wir basteln noch dran.

Bedeutet der Verzicht auf Noten auch, dass es weniger Leistungsdruck gibt?

Es gibt auch bei uns Leistungsdruck. Denn Gelingensnachweise werden auch bei uns geschrieben. Aber ich melde mich dafür an, wenn ich mich so weit fühle.

Es gibt keine Tests für alle, sondern den Zeitpunkt legt jeder Schüler für sich selbst fest?

Ja, so machen wir das. Man kann Lernen nicht von außen steuern, man kann nur die richtige Lernumgebung schaffen. Nach der Schule im Arbeitsleben muss man in einer bestimmten Zeit etwas erzeugen, aber nie wieder muss man in einer bestimmten Zeit etwas lernen, wie das in klassischen Schulen der Fall ist: auf Geschwindigkeit in mehreren Fächern etwas lernen und reproduzieren. Das erzeugt Stress, der extrem negativ besetzt ist. Im Kern bereiten wir Menschen darauf vor, nicht lernen, sich nicht weiterbilden zu wollen.

In der Bildungswissenschaft werden alternative Konzepte nach meinem Eindruck seit Jahren breit diskutiert. In die Praxis schaffen es solche Ansätze trotzdem selten. Woran liegt das?

Am Ende ist es eine bildungspolitische Entscheidung und die treffen halt keine Erziehungswissenschaftler. Schule lässt sich nicht innerhalb einer Wahlperiode verändern. Deswegen wird das nie angefasst. Die Bildungswissenschaft hat keine Relevanz für die Bildungspolitik.

Die Universitätsschule ist in Dresden. Sachsen schneidet in den Pisa-Studien immer sehr gut ab und fühlt sich dadurch in seinem Festhalten am gegliederten Schulsystem bestätigt.

Ich interpretiere die Pisa-Daten anders. Sachsen ist seit Jahren Sieger, aber nur in Relation, denn alle werden schlechter, auch Sachsen. Außerdem hat Sachsen immer einen Vorteil, weil es so stark selektiert. In den Pisa-Tests werden keine Förderschulen abgebildet, was heißt, je stärker das selektive System, umso gesäuberter ist die Datenlage von Schülern. Andere Bundesländer wie Berlin oder Bremen haben eine hohe Inklusionsquote. Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderungsbedarf sitzen da normal in der Regelschule und sind Teil der Stichprobe. Das andere ist, dass bei diesen Kompetenztests inzwischen auch umstritten ist, ob sie das messen, was wir wirklich brauchen.

Wie meinen Sie das?

Ich habe die Erfahrung in Sachsen gemacht, dass Schüler sehr gut in der Reproduktion von Wissen sind, aber nicht gut in Anwendung des Wissens, in Kreativität und in Selbstwirksamkeit. Das wird bei Pisa nicht erhoben, aber das wäre sehr zu empfehlen.

Warum sollte das ein Bildungsziel sein?

Das ist angesichts der vielen Krisensituationen für eine Gesellschaft wichtig, aber auch dafür, ob sich Menschen in ihrer Haut wohlfühlen und das Gefühl haben, dass sie mit Herausforderungen umgehen oder etwas verändern können.

Kann man das denn wissenschaftlich messen?

Wir machen Selbstwirksamkeitsstudien an der Universitätsschule. Es gibt auch Studien, die eine Korrelation zwischen Leistungsfähigkeit ab einem bestimmten Alter und Selbstwirksamkeit belegen. Aus meiner Sicht sollte Schule dazu beitragen, die individuellen Potenziale auszuschöpfen. Das gelingt mit unserem Schulsystem noch viel zu wenig.

Wir sind käuflich.

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