Arbeitszeit ist Lebenszeit!

Verlängerte Arbeitszeiten sind ein Angriff auf die Selbstbestimmung. Die Gewerkschaften dürfen hier nicht zurückweichen

  • Stephan Krull
  • Lesedauer: 4 Min.
Im März hat die IG Metall vor dem Bundeskanzleramt noch protestiert. Jetzt ist es still geworden um die Verlängerung der Arbeitszeiten.
Im März hat die IG Metall vor dem Bundeskanzleramt noch protestiert. Jetzt ist es still geworden um die Verlängerung der Arbeitszeiten.

Die Zeichen standen auf Arbeitszeitverkürzung, im Jahr 2024 war die Vier-Tage-Woche in aller Munde. Eine neue Runde im Jahrhundertkampf um Humanisierung der Arbeit, um Emanzipation von unselbständiger Arbeit, um Geschlechtergerechtigkeit und demokratische Beteiligung. Nach Ausrufung der »Zeitenwende« dreht sich der Wind. Im Kampf dagegen sind das Kapital, die Regierung und große Medien nicht zimperlich. Tägliche Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden wären erforderlich, mit der Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance sei der Wohlstand nicht haltbar. Als der CDU-Generalsekretär in einer Talkrunde gefragt wird, wer länger arbeiten soll, fällt ihm außer Rentnern nicht viel ein. Und, so Linnemann, der Ausbau von Infrastruktur für Kinderbetreuung und Pflege könne zu einer höheren Erwerbsbeteiligung von Frauen führen.

Was aber tun, wenn die Wirtschaft nicht wächst – und die industrielle Produktion nicht unendlich wachsen kann? Die IG Metall-Vorsitzende Christiane Benner sagt: »Es sind die Arbeitgeber, die deshalb die Arbeitszeit verkürzen – auf Kosten der Beschäftigten«, um ihrerseits der Forderung nach der Vier-Tage-Woche jetzt eine Absage zu erteilen. In vielen Ländern erleben wir Angriffe auf Gewerkschaften, auf das Leben und die Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter. Wegducken ist keine erfolgreiche Strategie, wenn der Acht-Stunden-Tag angegriffen wird.

Was ist der richtige Weg? Individuelle Arbeitszeitgestaltung entlang der Lebensphasen oder kollektive gesetzliche und tarifliche Regelungen? Wie stark ist der Einzelne gegenüber dem Arbeitgeber? Alle, die es nicht mehr aushalten oder sich irgendwie leisten können, reduzieren ihre Arbeitszeit. Die Segmentierung in Erwerbslose, Minijobs, unfreiwillige Teilzeit und Vollzeit mit vielen Überstunden führt zur Spaltung der Arbeiter*innenklasse. Eine kollektive Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich zumindest für die unteren und mittleren Entgeltgruppen würde die vom Kapital organisierte vielfache Spaltung eindämmen. Zeit ohne Fremdbestimmung führt zum gemeinsamen Zeitwohlstand von Eltern mit Kindern, zu gemeinsamen sportlichen Aktivitäten und zur gemeinsamen Care-Arbeit von Frauen und Männern.

Das Einfache, das schwer zu machen ist

Der Dauerkampf um die Arbeitszeit ist ein machtpolitischer Konflikt zweier Ökonomien: Rationalität des Gemeinwesens oder betriebswirtschaftliche Rationalität des Einzelunternehmens (Oskar Negt). Gewerkschaften müssen im entfesselten Kapitalismus die internationale Zusammenarbeit und nachhaltiges Wirtschaften forcieren. Das »Normalarbeitsverhältnis« der männlichen, überlangen Lohnarbeit als Basis für überkommene Familienbilder ist Vergangenheit. Dauer und Lage der Arbeitszeit sind Kernelemente guter Arbeit. Intensivierung der Arbeit und Produktivitätsentwicklung erfordern verkürzte Arbeitszeiten, möglichst keine Nachtarbeit. Das ist der Geist des Arbeitszeitgesetzes, in dessen Paragraf 1 es unter anderem heißt: »Zweck des Gesetzes ist es, den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeitszeitgestaltung zu gewährleisten.« Das, was eine Binse gewerkschaftlicher Tarifpolitik und des gesellschaftspolitischen Mandats sein müsste, übersetzt sich wenig in gewerkschaftliche Praxis. An die harten, letztlich erfolgreichen Kämpfe um den Acht-Stunden-Tag, um den freien Samstag und um die 35-Stunden-Woche mit der gesellschaftlich mobilisierenden Forderung nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung mögen Gewerkschaften gegenwärtig nicht anknüpfen. Vielfach ist beschrieben, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit arbeitsorganisatorisch keine große Hürde darstellt. Große Unternehmen können mit 100 Arbeitszeitmodellen umgehen, kleine Betriebe dann mit zehn Modellen und andere mit vielen individuellen Umsetzungsvereinbarungen. Alle Erfahrungen zeigen, dass die Kolleginnen und Kollegen den Luxus von mehr freier Zeit nicht mehr missen wollen.

Ein Gewinnerthema: die Offensive gegen den Ausschluss von Millionen Menschen aus der Gesellschaft, für ein gutes Leben für jede und jeden, equal pay und equal time, und für einen nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen.

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Im Kern geht es also um Macht. Das beschreibt Hans-Jürgen Urban vom Vorstand der IG Metall im »Jahrbuch Gute Arbeit« (2017) klar: »Wer über die eigene Zeit verfügt, hält den Schlüssel für eine autonome, eine selbstbestimmte Lebensführung in der Hand. Wer über die Zeit anderer verfügt, übt Fremdherrschaft aus.« Für die Gewerkschaften ist Arbeitszeitverkürzungen programmatisch: Kurze Vollzeit als neuer Standard und positives Narrativ, die gesetzliche Beschränkung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden – eine Aufgabe auch für Die Linke und ihre Bundestagsfraktion. Das ist ein Gewinnerthema: die Offensive gegen den Ausschluss von Millionen Menschen aus der Gesellschaft, für ein gutes Leben für jede und jeden, equal pay und equal time und, als Konvergenzpunkt zur Klimabewegung, für einen nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen. Durchsetzbar in Allianzen wie beim Kampf um die 35-Stunden-Woche: junge Eltern, feministische- und Care-Bewegung, Gewerkschaften, Sozialverbände, Umwelt- und Klimabewegung, Wissenschaftler*innen, Kirchen, Mediziner*innen und Sportvereine.

Wenn die Gewerkschaften jedoch zurückweichen, wird das Kapital gewinnen.

Leseempfehlung: »Weniger arbeiten – mehr
leben; die neue Aktualität von Arbeitszeitverkürzung« (VSA), https://www.vsa-verlag.de/
uploads/media/www.vsa-verlag.de-Steinruecke-Zimpelmann-Weniger-arbeiten-mehr-leben.pdf

Stephan Krull ist Mitglied der Delegiertenversammlung der IG Metall in Wolfsburg und
engagiert sich in der Attac-AG »ArbeitFairTeilen«.

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