Zurückschieben an der Grenze: »Aber wir werden es tun«

Merz und Dobrindt wollen einem Gerichtsurteil zum Trotz an Zurückweisungen festhalten

Sogar per Hubschrauber werden Polizist*innen zu den Kontrollstellen gebracht.
Sogar per Hubschrauber werden Polizist*innen zu den Kontrollstellen gebracht.

Eigentlich hätte alles sehr einfach sein können. Am Montag hat das Verwaltungsgericht Berlin die Klagen von drei Menschen aus Somalia entschieden, die am 9. Mai an der deutsch-polnischen Grenze in Frankfurt (Oder) von der Bundespolizei zurückgewiesen worden waren. Die Zurückweisungen waren illegal. Die Bundesrepublik verletzt Europarecht. Den Geflüchteten steht zu, dass ein Dublin-Verfahren durchgeführt wird, mit dem bestimmt wird, welches Land für ihr Asylverfahren zuständig ist. Die Entscheidung ist eindeutig und war von vielen Expert*innen so erwartet worden.

Bundeskanzler Merz, der schon im Wahlkampf Zurückweisungen mit Beginn seiner Kanzlerschaft angekündigt hatte, und Innenminister Alexander Dobrindt hätten nun die Entscheidung des Gerichts mit Fassung zur Kenntnis nehmen und die rechtswidrige Praxis beenden können. Stattdessen erklären aber beide, dass sie weiter daran festhalten wollen. Dobrindt erklärte am Montagabend, dass es sich um Einzelfallentscheidungen handele und er auf eine Entscheidung im Hauptverfahren warte. Kanzler Merz zog am Dienstag nach. Beim Kommunalkongress des Deutschen Städte- und Gemeindebundes in Berlin erklärte er, die Entscheidung habe zwar die Spielräume eingeschränkt: »Aber die Spielräume sind nach wie vor da. Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisungen vornehmen können.« Er wolle dies alles im Einklang mit dem europäischen Recht tun. »Aber wir werden es tun, auch um die öffentliche Sicherheit und Ordnung in unserem Lande zu schützen und die Städte und Gemeinden vor Überlastung zu bewahren«, so der Bundeskanzler.

Nun hatte das Gericht zwar Einzelfälle zu entscheiden. Trotzdem hat der Beschluss grundsätzlichen Charakter. Das betont das Gericht in seiner Entscheidung auch und verweist darauf, dass deshalb nicht nur ein*e Einzelrichter*in entschieden hat, sondern eine ganze Kammer mit drei Berufsrichter*innen. Auch das Hauptverfahren, auf das Dobrindt warten will, wird es nicht geben. Die Fälle der drei Kläger*innen sind mit der Eilentscheidung geklärt.

Rechtsmittel kann der Bund gegen die Entscheidung auch nicht einlegen. Im Asylrecht gibt es eine Sonderregel, die Beschwerden ausschließt. »Die Intention des Gesetzgebers ist natürlich, auf diese Weise so schnell wie möglich vollziehbare Abschiebungsandrohungen/-anordnungen zu erreichen, indem man es den Antragsteller*innen unmöglich macht, ins Rechtsmittel zu gehen, wenn ihre Eilanträge abgelehnt werden«, erklärt der Asylrechtsanwalt Marcel Keienborg dem »nd« die Sonderregel. »Das gilt dann halt auch umgekehrt für die Behörden.«

Wie ist angesichts dieser rechtlichen Lage zu bewerten, dass Dobrindt und Merz an den Zurückweisungen festhalten wollen? Asylanwalt Keienborg erklärt, dass Gerichte in der Regel immer in Einzelfällen entscheiden. Herausgehobene Instanzen wie das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof ausgenommen. Deswegen können man nun auf einer »rein formalen Ebene« sagen, die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin beträfen nur die konkreten drei Fälle und die Entscheidung habe »keine Bindungswirkung für andere«. Aber, so Keienborg, beinahe alle Jurist*innen mit Expertise zu dem Thema seien sich einig, dass die Praxis der Zurückweisungen illegal ist. Direkt im Grundgesetz sei verankert, dass sich Verfassungsorgane an Recht und Gesetz halten müssten. Wenn Dobrindt und Co dies außer Acht ließen und sich darauf beziehen, eine andere Rechtsauffassung zu haben, sei das »schon hart an der Grenze zu einer bewussten Missachtung der Rechtslage«, findet er. Strafbar sei Dobrindts Handeln allerdings nicht.

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Die Linke-Bundestagsabgeordne Clara Bünger fordert Dobrindt zum Rücktritt auf. »Jetzt zeigt sich, ob die Union den Rechtsstaat respektiert oder ihn mit Füßen tritt. Wer geltendes Recht so missachtet, gehört schlicht nicht in ein Regierungsamt«, findet Bünger. »Wenn wir an den deutschen Grenzen wegsehen, schwächen wir den Rechtsstaat im Inneren. Wenn wir die Rechte von Geflüchteten an der Grenze verteidigen, verteidigen wir daher die Rechte von allen Menschen«, sagt die Linke-Politikerin. Von SPD-Bundesjustizministerin Stefanie Hubig fordert Bünger eine Klarstellung: »Der Rechtsstaat ist nicht verhandelbar.« Hubig trage die Verantwortung dafür, dass geltendes Recht auch an der Grenze durchgesetzt wird. Die SPD müsse sich entscheiden, »ob sie diese Praxis weiter deckt oder endlich damit aufhört, verfassungswidrige Politik mitzutragen«.

Justizministerin Hubig äußerte sich gegenüber der Nachrichtenagentur dpa am Dienstagnachmittag, sie habe »keine Zweifel, dass die Bundesregierung die Gerichtsentscheidungen befolgen wird«. Das Verwaltungsgericht habe aus ihrer Sicht zwar nicht abschließend geklärt, ob Zurückweisungen von Asylsuchenden an den Binnengrenzen mit europäischem Recht vereinbar seien. »Es wird aber nicht einfach werden«, vermutet die Ministerin, »die Justiz davon zu überzeugen, dass diese Zurückweisungen rechtmäßig sind.«

An den deutschen Grenzen gehen die Kontrollen unterdessen weiter. Die Gerichtsentscheidung ändere nichts an Kontrollen und Zurückweisungen, bekräftigte der stellvertretende Bundesvorsitzende der rechten Bundespolizeigewerkschaft DPolG, Manuel Ostermann, gegenüber dem »MDR«. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) hingegen sieht sich in ihrer Kritik an der Maßnahme bestätigt. »Wir haben von Anfang an gesagt, dass die jetzt eingeführte Verfahrensweise, Zurückweisung von Asyl- und Schutzersuchenden, juristisch stark umstritten ist«, sagte der Vorsitzende des GdP-Bereichs Bundespolizei, Andreas Roßkopf, den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

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